Die Beatles lassen John Lennon auferstehen und veröffentlichen eine digitale Laubsägearbeit. „Free As A Bird“ heißt das neue Stück, das die Fans am Dienstag in den Plattenläden Schlange stehen lassen wird. Virtuelle Wiedervereinigung in den Neunzigern. Nichts ist unmöööglich – Mc-Cart-ney! Von Thomas Groß

Hier plündern die Chefs!

Das Glück ist doch kein warmes Gewehr, sondern ein altes Tonband. „Free as a Bird“ heißt das Lied, das John Lennon in seinem letzten Jahr einem Mono- Kassettenrecorder anvertraute – nichtsahnend, was dieses Skizzlein Musik eines Tages bewirken würde: Die Wiedervereinigung! Der Beatles! In den Neunzigern! Ja, wer hätte das vor kurzem noch für möglich gehalten! Ein Schelm, wer Böses dabei denkt: der Leadsänger ist bekanntlich ein Toter. Und hatte Lennon dereinst nicht in einem Interview klipp- und klargestellt: „Ich schreibe nicht für die Beatles, ich schreibe für mich selbst“?

Doch das ist lange her – und wozu sentimental werden? Paul McCartney, den alten Richelieu- Charakter, hat es jedenfalls nicht gestört, als er sich mit den beiden anderen Hinterbliebenen im Februar letzten Jahres in einer zum Studio umgebauten Windmühle in East Sussex traf, um der bescheidenen Weise ein Beatles-Arrangement zu verpassen. Weder das Fehlen einer halben Strophe noch extremes Grundrauschen erwies sich dabei als ernstzunehmendes Hindernis – man kann da ja heute so viel machen! (Digitalisierung etc.) Wenn man McCartney glauben darf, war die Stimmung super: Sie sollten sich einfach vorstellen, John sei auf einem längeren Urlaub, hatte er den beiden anderen geraten – offenbar extrem kindlichen Gemütern, die gute Miene zur Geisterbeschwörung machten. Sogar Yoko Ono, sonst die böse Hexe im Beatles-Märchen, hat ihren Segen zu dieser, sagen wir, virtuellen Band gegeben, mehr noch: Sie war es, die den Rest-Beatlen die Bänder mit drei unvollendeten Lennon-Songs überhaupt erst zur Verfügung stellte.

Drei Mal werden wir noch wach, dann wird kein Weg mehr vorbeiführen an der historischen Songzeile: „Free as a bird / Home, home and dry / Like a homing bird I'll fly“. Und das ist erst der Anfang! Die Beatles-Reunion- Hymne ist der Teaser einer am 21. November erscheinenden Doppel-CD mit raren oder offiziell unveröffentlichten Beatles-Aufnahmen, die wiederum nur die erste einer auf drei Doppel-CDs angelegten, chronologisch geordneten Werkschau namens „Anthology“ ist. Die „Anthology“ ist nun aber zugleich wieder nur das Seitenstück einer mehrteiligen, aufwendigen Fernsehdokumentation mit visuellem Beatles-Gedächtnismaterial, die in alle Welt versendet wird (für Deutschland hat sich das ZDF die Rechte gesichert, Ausstrahlung am 22., 25. und 28.12). Im nächsten Jahr kommen die Filme als Kaufkassette auf den Markt – von T-Shirts und ähnlichem wollen wir hier gar nicht weiter reden. Beatlemania 2 rollt gen 2000. Wer dann noch kein Beatles-Fan ist, wird es lange bleiben.

Daß es dabei vor allem um viel, viel Geld geht, ist ein kärglich gehütetes Geheimnis. 100 Millionen Pfund ist die offiziell gehandelte Mindesteinspielsumme allein für die Fernsehrechte. „Money, that's what I want“: Noch immer verdient Paul McCartney, mit geschätzten 600 Millionen Pfund einer der reichsten Männer Englands, mehr Geld mit Beatles-Material als mit seinen späteren Kompositionen, und das, obwohl die Beatles gerade mal acht Jahre zusammen waren und seither ein Vierteljahrhundert vergangen ist. Der Mensch von der Plattenfirma Decca, der 1962 eine unbekannte Band namens The Beatles ablehnte, weil Gitarrenbands „nicht mehr angesagt“ seien, hat unser tiefstes Beileid verdient.

Doch Beatlemania 2 ist nicht nur ein einmaliger Verkaufscoup. Dahinter steht auch der Versuch, alles noch verbleibende, mit den Beatles in Verbindung stehende Material dauerhaft unter die Kontrolle eines einheitlichen Copyrights zu zwingen – es ist ja schon dumm genug, daß Michael Jackson heute die Rechte an den allermeisten Beatles-Songs besitzt. In einer beispiellosen Rückrufaktion hat Apple – nicht der Computerhersteller, sondern die einst von den Beatles „zur Förderung junger Künstler“ gegründete Firma – jeden noch so obskuren Beatles- Stoff gesammelt, ersteigert, aufgekauft. Die Zeiten, in denen Hotelangestellte mit in Quadrate geschnittenen, benutzten Kopfkissenbezügen (hier träumten die Beatles) reich wurden, sind vorbei. Wer in Zukunft noch unerlaubt sein privates Beatles-Fotoalbum veröffentlicht, kriegt einen Prozeß an den Hals.

Ähnliches gilt für die „Anthology“-Songs selbst. Obwohl eine hartnäckige Legende besagt, der Beatles-Liedschatz (Frühversionen, Outtakes, Unveröffentlichtes) lagere bomben- und diebstahlsicher hinter einer Stahltür der Londoner Abbey-Road-Studios, zirkulieren seit langem Bootleg- Alben („Rare Tracks“), die das meiste von dem für „Anthology“ angekündigten Material enthalten dürften.

Diese Zeiten sind für jedes Revival zu gebrauchen

Wer es wissen wollte, hatte also bisher auch schon die Möglichkeit, „While My Guitar Gently Weeps“ in der Urversion zu hören – allerdings nicht zu diesem Preis, und auch nicht in einer Volksausgabe, die alle Tantiemen ordnungsgemäß an die Rest-Beatles (+ Yoko) abführt. Hier plündern die Chefs! Was nach dieser Spätlese noch übrig sein wird, ist dann ein Fall für die Philologen – auch das nicht zu verachten. Werkausgabe für das Jahr 2001: alle 400 Stunden Studiomaterial auf drei dieser neuentwickelten CD-ROM-SDD (SuperDuperDensity), 999 Mark. Im goldgeprägten Schuber.

Zugegeben: Das klingt etwas futuristisch, doch Paul McCartney wäre heute noch viel reicher, wäre 1962, als einige der noch heute gültigen Beatles-Verträge abgeschlossen wurden, schon zu ahnen gewesen, daß es einmal solche Science-fiction-Tonträger wie CDs geben würde. Oder gar Multimedia-Vermarktung. In Zeiten, die für jedes Revival zu gebrauchen sind, lautet die Maxime: Halt deinen Back-Katalog sauber.

Das alles erklärt aber noch nicht die Bereitschaft zur Hysterie, auf die das fertig geschnürte Beatles- Weihnachtspaket trifft, auch nicht die übergroße Willigkeit, mit der die Mainstream-Medien den Prozeß des begleitenden Durchnudelns („Pilzköpfe“: ihre größten Erfolge, ihre tollsten Exzesse, ihre verpaßtesten Reunion-Versuche) vorangetrieben haben. Denn genau besehen hat nicht nur der Hype um eine seit 25 Jahren aufgelöste Pop-Band etwas Unappetitliches, auch die ästhetischen Mittel selber sind alles andere als innovativ. Um nicht zu sagen: scheißreaktionär.

In den Sechzigern waren es die Beatles, die sich vom Rock 'n' Roll-Geschäft zurückzogen, auf Live-Auftritte verzichteten, das Studio als Instrument entdeckten. Und auch wenn Pop-Mythologen wie Nik Cohn das Experimentieren mit Symphonieorchestern, Halltunneln, Bandschlaufen, Rückwärtseinspielungen und anderen Studio-Tricks als Verkunstung des naiv-sentimentalischen Urimpulses geißelten – hier war neben dem Ehrgeiz emporgekommener Vorstadtkinder auch hörbar großer Spaß im Spiel. Die Vergangenheit remixen, mit vier kläglichen Spuren alles durch die Mangel ziehen! Die Phase von „Rubber Soul“ (einzelne Stücke) über „Sergeant Pepper“ bis hin zum weißen Album, das war der zivile Mondflug, die spielerische Nutzung von Technologien, aus denen ansonsten Teflonpfannen und DummDumm-Geschosse erwuchsen. Apollo Beatles: „Turn off your mind, relax and float downstream“.

Genau das Gegenteil ist bei einer Laubsägearbeit wie „Free As A Bird“ der Fall. Was an High- Tech zum Einsatz kommt, soll bloß den Stand von 1967 reproduzieren, ist Mittel zum Zweck der Konservierung einer ohnehin nicht festzuhaltenden Konstellation. Paul McCartney selbst hat es in seiner gewohnt offenen Art auf den Punkt gebracht: „Wenn du einen ägyptischen Topf findest, muß es auch nicht der beste sein. Es reicht, wenn du weißt, er kommt aus Ägypten.“

Natürlich weiß das im Grunde jeder, der am kommenden Dienstag in den Laden rennen wird, um im allgemeinen Trubel das erste dieser Collector's Items nach Hause zu tragen (ich fürchte fast, ich werde dabeisein). Etwas Gespenstisches hat es aber doch. Die Popkultur – ein Tummelplatz für Ägyptologen? Trotz behaupteter Gegenwart längst vergangen? Vergleichbar der Grabkammer der Nefertari, die ja nach Jahrtausenden der Ruhe auch vor kurzem erst zur öffentlichen Begutachtung freigegeben wurde? Man kann es tatsächlich nur mit einem kultischen Moment erklären: Die Beatles sind die heilige Familie einer irgendwie versunkenen Kultur, der Kaufakt das Festhalten an den damit verbundenen family values.

Am frühesten hat es dann doch wieder Nik Cohn registriert. „Lennon war der Brutale“, schreibt er, „McCartney war der Hübsche, Ringo Starr der Liebenswerte, und Harrison war der Ausgeglichene. Und wo Lennon taktlos war, war McCartney ein gebotener Diplomat. Und wenn Harrison begriffsstutzig wirkte, war Lennon sehr clever. Und wo Starr ein Clown war, war Harrison beinahe melancholisch. Und wenn McCartney ein Ästhet war, war Starr ein einfacher Junge. Immer rundherum und rundherum ... Und das Ganze erzeugte ein beruhigendes Gefühl von Geschlossenheit.“

Beatles-Texte sind wie das Wort zum Sonntag

Das beruhigende Gefühl von Geschlossenheit – es liegt immer mit auf dem Ladentisch, wenn dieser Wechsel eingelöst wird. So billig werden wir nie wieder zusammenkommen. Yeah, yeah, yeah! Love me, du!

Die Beatles als Vierer-Abwehrkette: Wir waren mal die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben. Und auch wenn das lange hier ist: Immer noch ist die Platte rund. Und als CD dauert sie sogar 90 Minuten. Und wenn sie bis dahin nicht gestorben sind, wird die nächste Beatles-Reunion im Cyberspace stattfinden. Nichts ist unmöööglich – Mc-Cart-ney!

Je nu? Das Lustige, aber auch Erschreckende an einer (doch, doch!) historisch gewordenen Combo wie den Beatles ist, daß sie trotz allem immer noch so vielseitig interpretierbar sind. Es ist wie ein Wort zum Sonntag. Leben wir tatsächlich in einem gelben Unterseeboot? Macht immerzu einer das Loch zu, durch das der Regen hineinkommt? Kommen seltsame Gestalten durchs Badezimmer herein? Ist die Straße so endlos lang und voller Kurven? Warum machen wir es nicht einfach auf der Straße? Soll man es sein lassen? Hey, Jude! Ich bin so müde. Hat jeder etwas zu verbergen außer mir und meinem Affen? Wird es besser die ganze Zeit? Hey, Bulldogge! Ist es so schwer für einen Christenmenschen, der Kreuzigung zu entgehen? Oder ist das Glück doch eher ein warmes Gewehr?

Sogar das, was jetzt mit John passiert ist, ist prophetisch vorweggenommen: „Come together, right now – over me!“