"Der Körper wird einfach abgegeben"

■ Interview mit Wolfram Schüffel, Professor für Psychosomatik am Klinikum Lahnberge der Marburger Philipps-Universität, über die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte und Prinzipien der Salutogenese

Das Konzept der Salutogenese stammt von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, der an der Universität Beersheba in Israel lehrte. Gemeinsam mit Benjamin Maoz, dem Leiter der dortigen psychiatrischen Poliklinik, hatte er 1970 eine Befragung von Frauen verschiedener Ethnien über ihr Befinden in der Menopause durchgeführt. Unter diesen Frauen befanden sich auch Überlebende aus deutschen Konzentrationslagern. Für Überraschung sorgte, daß immerhin 29 Prozent dieser Frauen, die Verfolgung, KZ, Flucht und Emigration hinter sich hatten, keine gesundheitlichen Schäden davon zurückbehielten. Dieses Ergebnis provozierte Antonovsky zu der Frage, welche Eigenschaften oder Fähigkeiten diese Frauen denn besaßen, die sie besser als andere mit dem Horror der KZs fertig werden ließen. Das war die Geburtsstunde der Salutogenese, die im Gegensatz zur Pathogenese der Schulmedizin nicht nach der Entstehung und Entwicklung einer Krankheit fragt, sondern die Entstehung von Gesundheit in den Mittelpunkt stellt.

taz: Herr Schüffel, wann sind Sie zum ersten Mal mit der Salutogenese in Berührung gekommen?

Wolfram Schüffel: Das war Anfang der achtziger Jahre, als ich anfing mich zu fragen, was man der sogenannten Reparaturmedizin entgegensetzen könnte. Der kranke Körper wird ja bekanntlich, vergleichbar einem defekten Motor, beim Mediziner einfach abgegeben. Beide sind sich in der Regel darüber einig, Patient wie Mediziner, daß zu reparieren ist, aber genauso sind sie auch damit unzufrieden, nur das artikuliert sich auf andere Weise. Angesichts dieses Dilemmas habe ich mir gesagt, es müßte doch eher umgekehrt sein, daß wir fragen: „Wann fühlen wir uns eigentlich gesund?“, und dementsprechende Situationen herstellen.

Nannten Sie das denn damals schon Salutogenese?

Nein, dieser Ausdruck stammt von Antonovsky, von dem ich damals noch nichts wußte. Erst 1990 bin ich auf dessen Konzept der Salutogenese gestoßen und stellte fest, daß dort das, was mir vorschwebte, schon beschrieben und empirisch bearbeitet worden war.

Finden Sie es nicht zumindest für uns Deutsche irritierend, daß diese Überlegungen ihren Ausgang nahmen von den wenigen Überlebenden der deutschen KZs?

Ja, das stimmt, und das müssen wir mit der größten Behutsamkeit und auch gleichzeitig Pietät behandeln, gerade bei uns in Deutschland. Sehr schnell kann dann so eine entlastende Reaktion hochkommen nach dem Motto „Ach dann haben ja doch einige das KZ gesund überlebt – so schlimm kann es ja dann wohl nicht gewesen sein“. Ich glaube, deshalb hat auch Antonovsky eine Zeitlang gezögert mit seinen Schlußfolgerungen. Er und Maoz haben gemeinsam in der Diskussion regelrecht eine Art Schatten übersprungen und sich dann aber gestattet, auf diese KZ- Erfahrung in den Biographien einzugehen.

Ist der Eindruck richtig, daß Anerkennung und Respekt gegenüber Kranken und das Annehmen einer Krankheit bei salutogenetischer Haltung viel ausgeprägter zu sein scheinen, weil man eine Beseitigung von Krankheit gar nicht im Visier hat?

Auf jeden Fall. Ich würde zum Beispiel den Kranken, der einen koronaren Bypass bekommt, dem salutogenetischen Prinzip zuweisen mit folgenden Fragen: „Wie kann dieser operierte Patient sein Leben auf die Zukunft hin realistischer gestalten? Kann er die Belastungen für sein Herz künftig besser einschätzen?“ Und vor allem: „Was sieht er für einen Sinn darin, daß ihm jetzt die Möglichkeit gegeben ist, wieder mit seinem Herz zu leben?“ Oft habe ich Schrittmacherpatienten sinngemäß sagen hören: „Ich will durch den Schrittmacher nicht weiter durchs Leben gepeitscht werden.“

Worin besteht nun eigentlich das salutogenetische Prinzip in der Praxis?

Ich frage jeden Patienten: „Wann haben Sie sich das letzte Mal gesund gefühlt?“, und grenze mich dadurch ab vom herkömmlichen Betrieb, wo gefragt wird: „Wann hat eigentlich die ganze Krankheit angefangen?“ Durch die erste Frage erfahre ich, unter welchen Umständen der Mensch in der Balance war. Die Definition von Gesundheit, die mich leitet, lautet: Ich bin dann gesund, wenn ich kreativ mit mir und den anderen umgehen kann. Das steckt in der herkömmlichen Medizin nicht notwendigerweise drin.

Warum liegen wir in Deutschland so weit zurück mit der Anerkennung der Salutogenese?

Dahinter steht eine Entwicklung, die etwa 1860 beginnt, wo die Positionen über hundert Jahre immer wieder schwankten. Das begann mit der sogenannten railway spine, Vibrationsschäden der Wirbelsäule durch Reisen mit der Eisenbahn. Es folgte 1889 hier in Deutschland die traumatische Neurose von Oppenheim, dem damals führenden Berliner Neurologen. Zu Beginn unseres Jahrhunderts kam es zu einer Aufspaltung in zwei Richtungen, die psychosoziale und die biologisch-naturwissenschaftliche. Für die erste griff die Psychoanalyse auf die traumatische Neurose zurück, während es in der Medizin immer härter zum Biologischen rübergeht und in Deutschland während des Ersten Weltkrieges die Kriegszitterer entdeckt wurden. Bei uns wurde diesen Kranken die Anerkennung verweigert durch Fachleute wie Jaspers, der sagte: „Alles, was länger als sechs Monate dauert, das muß auf ein vorgeschädigtes Individuum und dessen Ausstattung zurückgreifen.“ Das mündete dann ein in die Naziideologie von den zersetzenden Volksschädlingen, die ausgemerzt werden müssen. Die Zitterkrankheit wurde als Feigheit vor dem Feind aufgefaßt, und die Betreffenden wurden aufgehängt oder erschossen. Im Zweiten Weltkrieg tauchten die Kriegszitterer in den Krankenakten der Wehrmacht schlicht nicht mehr auf.

Tauchten sie nicht zum Teil als Magenbataillone wieder auf?

Ja, das waren die einzigen, die auf diese Weise überleben konnten. Die litten still vor sich hin, die hatten ihre Magengeschwüre und wurden aus ihren Bezugsgruppen herausgenommen und in Ersatzgemeinschaften gesteckt. Auf der anderen Seite aber hatten die Amerikaner und die Briten die Vorstellung, daß es sich bei den Krankheitsbildern um erlebnisreaktive Abläufe handelt, die man ernst nehmen mußte. Man sah zu, daß diese Leute in ihrem Verband drin blieben – das war ganz wichtig! Dieses Wissen war in den sechziger Jahren auch in den USA wieder verschwunden. Erst durch die Erfahrungen mit den Vietnamveteranen, die seelisch zerbrochen waren, besann man sich wieder auf die Kriegszitterer aus dem Zweiten Weltkrieg. Interview: Friedrich Hansen