Ein verfassungswidriges Verfassungsrecht?

Seit Einführung des Asylgesetzes 1993 haben sich 1.500 Asylbewerber an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Ab heute befinden die RichterInnen anhand von fünf exemplarischen Fällen über die Rechtsstaatlichkeit des Gesetzes  ■ Von Christian Rath

Bereits vor Monaten hatte sich Jutta Limbach bitter über das neue Asylrecht beklagt. „Mit heißer Nadel“ sei es gestrickt worden, erklärte sie beim Neujahrsempfang des von ihr geführten Bundesverfassungsgerichts (BVerG). Damals waren bereits 800 Verfassungsbeschwerden anhängig, heute sind es rund 1.500. Vor allem die daraus folgende Zusatzbelastung des Gerichts brachte Limbach in Rage. Jetzt aber hat das BVerfG Gelegenheit, seinen Arbeitsanfall zu reduzieren – und dabei auch den Flüchtlingen zu einem halbwegs fairen Verfahren zu verhelfen. Heute und morgen wird es mündlich über fünf Verfassungsbeschwerden gegen das neue Asylrecht verhandeln.

Die exemplarisch ausgewählten Fälle behandeln die Asylanträge einer Irakerin, eines Iraners, eines Togoers sowie eines Mannes und einer Frau aus Ghana. Im Falle der Irakerin und des Iraners steht die härteste Waffe des neuen Asylrechts, die „Drittstaatenregelung“, auf dem Prüfstand. Diese Bestimmung schließt den Anspruch auf Asyl von vornherein aus, wenn der Flüchtling aus einem „sicheren Drittstaat“ eingereist war. Der oder die AntragstellerIn kann sofort zurückgewiesen oder abgeschoben werden. Die Irakerin war über den EU-Staat Griechenland eingereist, der Iraner über Österreich, als es noch nicht der Europäischen Union angehörte. Bei beiden Staaten bestehen Bedenken, daß sie die Genfer Flüchtlingskonvention nicht korrekt anwenden. Gegenüber Österreich wird etwa der Vorwurf erhoben, daß es Flüchtlinge, die über Ungarn eingereist waren, dorthin zurückschiebe, obwohl Ungarn seinerseits nur europäischen Flüchtlingen den Schutz vor „Kettenabschiebungen“ in den Verfolgerstaat garantiere. Dies ist im Fall des Iraners von großer Bedeutung, da dieser über Ungarn nach Österreich gekommen war.

Der Fall der beiden Ghanaer befaßt sich vor allem mit dem Problem der angeblich „sicheren Herkunftsstaaten“, auf deren Liste auch Ghana steht. Wer aus einem solchen Staat nach Deutschland flieht, wird derzeit mit der in der Verfassung verankerten „Vermutung“ konfrontiert, daß er gar nicht politisch verfolgt sein kann. Anders als bei der „Drittstaatenregelung“ darf hier aber immerhin noch versucht werden, das Gegenteil zu beweisen. Allerdings wurde das gerichtliche Verfahren zeitlich und inhaltlich stark verkürzt: Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die drohende Abschiebung muß binnen einer Woche gestellt werden, für sprachunkundige Ausländer eine reine Schikane. Auch das Gericht muß binnen einer Woche entscheiden.

Im konkreten Fall führte dies dazu, daß sich der zuständige Richter am Verwaltungsgericht Frankfurt lediglich auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes bezog, dem zufolge es in Ghana nicht zu „konkreten staatlichen Verfolgungsmaßnahmen“ komme. Die vom Anwalt der Ghanaer vorgebrachten Gegenbeispiele ignorierte er einfach. Kommt ein Flüchtling aus einem vermeintlich „sicheren Herkunftsland“ auf einem Flughafen an, wird das ganze Verfahren gleich an Ort und Stelle abgewickelt.

Ein Togoer, an dessen Fall nun die Verfassungsmäßigkeit der „Flughafenregelung“ überprüft werden soll, war sogar der erste auf dem Frankfurter Flughafen ankommende Flüchtling. Bei dieser „Flughafenregelung“ verkürzen sich die ohnehin knappen Fristen noch einmal auf bis zu drei Tage.

Die Behandlung der Verfassungsklagen wird den Karlsruher RichterInnen einiges Kopfzerbrechen bereiten, denn sie wenden sich nicht nur gegen Gesetze, Gerichtsurteile oder Behördenwillkür, sondern auch gegen die Verfassung selbst. Als „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ bezeichnen die Beschwerden deshalb den neuen Asyl-Artikel 16a des Grundgesetzes. Möglich ist dieser paradox klingende Vorwurf, weil das Grundgesetz eine sogenannte Ewigkeitsklausel besitzt (Art. 79 Abs. 3). Sie erklärt Verfassungsänderungen für „unzulässig“, die elementare Prinzipien des Grundgesetzes beseitigen wollen. Wichtig für die Asylrechtsänderungen: Vor Einschränkungen geschützt sind auch das Rechtsstaatsprinzip und die Garantie der Menschenwürde. Eine Verletzung der Menschenwürde droht aber dann, wenn Flüchtlinge in einen Staat abgeschoben werden, wo ihnen Folter droht oder sie nicht vor der „Kettenabschiebung“ in den Verfolgerstaat sicher sind. Dies bestreitet auch die Bundesregierung nicht. Sie verweist jedoch darauf, daß die Abschiebung ohne jedes Asylverfahren eben nur in „sichere“ Drittstaaten möglich ist. Wie aber kann festgestellt werden, ob ein Drittstaat wirklich sicher ist? Diese Frage wird im Mittelpunkt des Verfassungsstreits stehen. Wenn die sicheren Drittstaaten per Gesetz oder (im Falle der EU-Staaten) sogar per Verfassung festgelegt werden, dann haben die Betroffenen und ihre Anwälte keine Chance mehr, im Einzelfall das Gegenteil zu beweisen. Wenn es nach dem neuen Asylrecht ginge, müßten sie dann Foltergefahr und ähnliches aus dem Ausland geltend machen, also im schlimmsten Fall vom Verfolgerstaat aus. Eine offensichtlich zynische Vorstellung, die wohl kaum noch den Mindeststandards eines Rechtsstaats genügt. Wer trotzdem ein Bleiberecht erwirken wollte, mußte bislang das Verfassungsgericht anrufen. Die Karlsruher RichterInnen wurden so zu einem etwas gehobeneren Verwaltungsgericht degradiert, was den Ärger von Jutta Limbach verständlich macht. Verhandelt wird das Asylrecht vor dem Zweiten Senat des BVerfG, der von einer konservativen Mehrheit dominiert wird. Dieser Senat war auch zuständig in Sachen Abtreibung, Bundeswehr im Ausland und Maastricht. Wann das Asyl- Urteil gesprochen wird, ist noch unklar. Zwischen Verhandlung und Urteilsverkündung können durchaus einige Monate liegen.