... schlußendlich kannte ich sie gar nicht

Hannah Arendt, die deutsche Jüdin, und Mary McCarthy, die katholische Amerikanerin – Eine Freundschaft und Romanze zweier berühmter „Femmes de lettres“ im Spiegel eines Briefwechsels, der über 25 Jahre dauerte  ■ Von Marie Luise Knott

Wir schreiben Anfang 1945. Hannah Arendt, die sich als deutsche Jüdin vor den Nazis in die Vereinigten Staaten gerettet hat, begegnet auf einer Party in New York einer Amerikanerin, die Mitleid mit Hitler äußert. Es müsse schrecklich sein, mutmaßt diese, wenn man sich wie Hitler nach der Liebe der Feinde, ja der Opfer sehne, diese Sehnsucht aber unbeantwortet bleibe ... Eine Provokation. Hannah Arendt, Zeugin dieser mitfühlenden Worte, ist empört: „Wie kann jemand so etwas äußern, und das ausgerechnet in Gegenwart von mir, wo ich doch in einem Konzentrationslager gewesen bin?“ Beim Abschied wandte sie sich an den Gastgeber, Philipp Ravh, Herausgeber der Partisan Review: „Wie kannst du als Jude in deinen vier Wänden solche Gespräche dulden?“

Diese spannungsgeladene Begegnung wird der Beginn einer intensiven Freundschaft. Hannah Arendt war in Wirklichkeit nie in einem Konzentrationslager, allerdings 1941 im südfranzösischen Internierungslager Gurs. Auch Mary McCarthy, die „Amerikanerin“, hatte mit ihrer Bemerkung in erster Linie wohl provozieren wollen. Heute können wir mit dem Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy, der nun auf deutsch vorliegt, etwas von der Tragweite dieser Freundschaft ermessen.

„Im Vertrauen“ ist ein Briefwechsel, der zeigt, wie Vertrauen wächst und wie dort, wo Vertrauen vorhanden ist, die kulturelle Differenz eine große Intensität und Spannung in dem Miteinander-Reden (dem Arendtschen Inter-esse) hervorbringt. Ein Briefwechsel, der das private wie das öffentliche Leben gleichermaßen zum Thema hat und nicht zuletzt dank der ausführlichen Kommentierung der Herausgeberinnen beiden Frauen gleichermaßen Raum gibt.

Dabei könnte die Herkunft dieser beiden Frauen verschiedener kaum sein: Hannah Arendt kommt aus einer jüdischen Familie des deutschen Bürgertums, assimiliert, mit sozialistischen Tendenzen. In Königsberg wuchs sie heran, in der untergehenden Tradition deutscher Bildungsideale. Ihr Studium führte sie zu Martin Heidegger nach Heidelberg, später zu Karl Jaspers nach Marburg. Vertrieben durch die antisemitische Verfolgung, suchte sie in Amerika nach den Chancen, die dieser Staat den Gestrandeten bot. Sie, selbst eine Staatenlose, widmete sich jenem verfassungsmäßig verankerten Glücksversprechen (pursuit of happiness, engagierte sich unter anderem für das Recht auf zivilen Ungehorsam und entwickelte hier ihre Theorie des politischen Handelns wider die Bedrohung des Politischen durch die Massengesellschaft.

Ganz anders Mary McCarthy. Sie, die aus einer amerikanischen, katholischen Upper-class-Familie stammte, wurde mit sechs Jahren durch den Tod der Eltern heimatlos. Sie besuchte das College, schlug sich der Zeit gemäß zur politischen Linken und wurde 1942 mit ihrem Gesellschaftsroman „The Company, she keeps“ mit einem Mal zu einer bekannten Schriftstellerin, bevor sie die innenpolitische geistige Enge der McCarthy-Ära Anfang der 50er Jahre nach Europa trieb. Sie studierte die europäischen Traditionen und reiste von hier aus in ferne Länder; doch auch in der Ferne kreisten ihre Romane weiter um die amerikanische Gesellschaft und ihre politischen Debatten der 60er und 70er Jahre. Entsprechend handeln die Briefe von allen wesentlichen Ereignissen der Zeit, von Vietnam, der totalitären Herrschaft, der Rassendiskriminierung ...

Beide Lebenswege sind getragen von der Faszination gegenüber der jeweilig fremden Kultur des „Anderen“. Und aus diesem Material ist die Beziehung gewebt, die uns in diesem Briefwechsel begegnet. „Unsere Zeit erinnert so langsam an irgendeinen schrecklichen Monumentalfilm“, schreibt Mary McCarthy im September 1962, „über die spätromanischen Kaiser mit ihren Messalinas und Poppeas. Und Bobby Kennedys Swimmingpool als das Bad mit Eselsmilch“.

Die tiefe Zuneigung zwischen diesen beiden Femmes de lettres äußert sich weniger in Bekenntnissen als vielmehr in einer tiefen Übereinstimmung, in gedanklicher Offenheit und in situativer Nähe. „Beende Deinen Roman und werde nicht depressiv – das wird man immer am Ende eines Buches“, rät Arendt einmal, und McCarthy fragt in einem Brief Hannah Arendt, die einen schweren Unfall hatte, lakonisch: „Hast Du im Krankenhaus deutsche Gedichte geschrieben?“

Diverse Passagen haben einen sehr innigen Ton, weshalb die Herausgeberinnen von einer „Romanze“ sprechen. Natürlich findet man überall Kommentare über gemeinsame Freunde und Feinde. Die Namen im Glossar geben ein beredtes Zeugnis davon, was und wer alles Eingang in das Beziehungsgeflecht dieser beiden Frauen gefunden hat. Privat und intim erfährt man hauptsächlich Details aus McCarthys bewegtem Eheleben. Hannah Arendt ist da weitaus weniger beredt.

Der Briefwechsel ist ein Zeugnis des Denkens in progress, der wechselseitigen Arbeitsbegleitung und ein Meinungsaustausch. Ein Beispiel hierfür ist die Eichmann-Kontroverse.

Hannah Arendt, die 1945 an den Nürnberger Prozessen nicht teilnehmen konnte, begleitete 1961 für den New Yorker den Eichmann-Prozeß in Jerusalem. Ihr Buch, in dem sie die Funktion der Judenräte im Nationalsozialismus hinterfragte und Eichmann als Täterperson entdämonisierte (wodurch er nicht minder erschreckend war), wurde in Amerika heftig attackiert. Mary McCarthy war beeindruckt von der Arbeit. Sie kritisierte Arendts Begriff der thinklessness – jener aus dem Deutschen nachgebauten „Gedankenlosigkeit“ – und schlug vor, doch besser von der „Abwesenheit des Denkens“ beziehungsweise von forgetfulness zu reden.

Angesichts der Verleumdungskampagne, die gegen Hannah Arendt initiiert wurde, verteidigte Mary McCarthy das Eichmann- Buch öffentlich als „moralisch erfrischend“. Sie „gesteht“ sogar, bei der Lektüre eine himmlische Musik vernommen zu haben, „eine Musik wie aus dem Schlußchor des Figaro oder aus dem Messias“.

Für diesen Satz, der den Eiferern gegen Hannah Arendt ein gefundenes Fressen war, entschuldigt sich Mary McCarthy später in einem Brief. Doch Hannah Arendt antwortet: „[...] aber ich habe diesen Satz immer geliebt, weil Du der einzige Leser bist, der verstanden hat, was ich sonst nie zugegeben habe – nämlich daß ich dieses Buch in einem merkwürdigen Zustand der Euphorie geschrieben habe. Und daß ich mich seither in der ganzen Angelegenheit – nach zwanzig Jahren – endlich unbeschwert fühle. Erzähle es niemandem; denn ist das nicht der eindeutige Beweis dafür, daß ich keine ,Seele‘ habe?“

Hier – wie an vielen Stellen – scheint eine Heiterkeit, ja eine Ironie auf, die der Lektüre der Briefe über weite Strecken eine enorme Leichtigkeit verleiht. Erst diese Heiterkeit ermöglicht es den beiden Frauen, jene „finsteren Zeiten“, in denen sie leben, auf menschliche Dimensionen zu bringen und im Angesicht des „Tatsachenabgrundes“ hier und da Hoffnungsschimmer zu imaginieren.

Einmal kommentiert Mary McCarthy ihre Weihnachtseinkäufe angesichts der Biafra-Hungersnot: „Man muß immer weiter so tun, als ob etwas, das der heutigen Welt ähnelt, fortbestehen wird. Ich zumindest.“ Ein andermal kommentiert Hannah Arendt die heftigen Auseinandersetzungen des Jahres 1968: „Die Studenten [...] sind vielleicht die modernen Maschinenstürmer, außer daß sie nicht einmal wissen, wo die Maschinen stehen, ganz zu schweigen davon, wie man sie zerschlägt. Aber wenn ich mir die ständig sinkende Effizienz aller Teile des Systems anschaue – Schulen, Polizei, Post, Verkehr, Währung, Müll etc. etc. –, habe ich manchmal das Gefühl, als ob die Studenten nur einen rituellen Tanz aufführen zu der scheppernden Musik von Maschinen, die sich gewissermaßen selbst zerstören.“

Mit Ironie und Heiterkeit ringen die beiden Frauen immer wieder um ein „winziges unverfälschtes unverzerrtes Stück Tatsachenwelt“. Denken als „Humanisierung der Wildnis der Erfahrung“ und das Gespräch – dies sind die einzige Rettung und Hoffnung.

Die kulturelle Fremdheit, die dieser Beziehung die Intensität verleiht, scheint noch einmal auf in Mary McCarthys Abschiedsrede nach Hannah Arendts Tod 1975. „In dem Sommer nach Heinrichs Tod [H. Arendts Mann, d. Red.]“, erzählt Mary McCarthy, „kam sie zu uns nach Maine.“ Sie beschreibt, wie sie ihr mit viel Überlegung die Küche eines Appartements einrichtet, und wie stolz sie ist, weil es ihr gelingt, im Dorflädchen eine Tube der gewohnten Anchovis-Paste aufzutreiben. Doch als Hannah Arendt ankam, „betrachtete sie die kleine Anchovis-Tube voller Mißbilligung, so als wäre sie ein völlig unerklärlicher, fremdartiger Gegenstand“. „Ich wußte, daß ich in meinem Bemühen, ihr gefällig zu sein, etwas falsch gemacht hatte. Sie wollte nicht gekannt sein, nicht auf diese, seltsam endliche und in gewisser Weise reduktive Art und Weise. Ich hatte es getan, um ihr zu zeigen, daß ich sie kannte [...] und hatte doch nur bewiesen, daß ich sie schlußendlich gar nicht kannte.“

Hannah Arendt / Mary McCarthy: „Im Vertrauen. Briefwechsel 1949–1975“. Hrsg. v. Carol Brightman. Aus dem Amerikanischen von Ursula Lutz u. Hans Moll. Piper Verlag 1995, 583 S., 49.80 DM