SPD-Fraktion setzt auf den Verlierer

■ Scharping erhält große Mehrheit in der Fraktion. Gregor Gysi zur taz: Gegen Koalitionen mit der SPD

Bonn (taz) – Mit großer Mehrheit hat die SPD-Bundestagsfraktion ihrem Chef Rudolf Scharping gestern in geheimer Abstimmung das Vertrauen ausgesprochen. 206 Abgeordnete votierten für den abgesägten Parteichef, nur 17 sprachen ihm ihr Vertrauen ab. Fünf enthielten sich. Scharping hatte sich nach seiner Niederlage auf dem Mannheimer SPD-Parteitag zu dem ungewöhnlichen Schritt einer Vertrauensfrage entschlossen, obwohl er bereits am 24. Oktober mit rund 80 Prozent als Fraktionsvorsitzender bestätigt worden war. Gestern erklärte er vor der Fraktion, Ziel sei weiterhin, daß die SPD 1998 den Kanzler stelle. Der neue Parteichef Oskar Lafontaine werde ohne jede Einschränkung von der Fraktion unterstützt. Der werde zukünftig häufiger an den Fraktionssitzungen teilnehmen.

Die Aufbruchstimmung bei den Sozialdemokraten bleibt ungebrochen. Gestern trat der neue Parteichef und Scharping- Bezwinger Lafontaine erstmals in dieser Funktion vor der Bundestagsfraktion auf. Es galt als offenes Geheimnis, daß das Verhältnis zwischen ihm und der SPD- Bundestagsfraktion nicht das beste ist. Lafontaine muß Skepsis und Mißtrauen abbauen, denn mancher SPDler erinnert sich noch allzugut daran, daß der Saarländer sich als Kanzlerkandidat nicht unbedingt an Absprachen hielt, sondern lieber sein eigenes Süppchen kochte. Doch gestern wurde Lafontaine ausgesprochen freundlich aufgenommen. „Ab jetzt wird Angriff gespielt“, erklärte er. Partei, Fraktion und SPD-Länder sollten gemeinsam die Regierung aus den Angeln heben. Das Ergebnis „für Rudi“ in der Fraktion nannte Lafontaine „eine gute Basis für weitere Zusammenarbeit“, die „gehässigen Spekulationen den Wind aus den Segeln“ nehme. Scharping nannte Lafontaines Absicht, sich mit PDS-Fraktionschef Gysi zu treffen, „ausgesprochen normal“.

PDS-Fraktionschef Gregor Gysi hat sich gegen eine Koalition auch auf Länderebene mit der SPD ausgesprochen. „Ich wünsche mir überhaupt keine Koalition – gegenwärtig. Würde mich heute eine Landtagsfraktion fragen, ob ich ihr rate, in eine Koalition mit der SPD zu gehen, würde ich nein sagen“, sagte Gysi der taz. In Mecklenburg-Vorpommern kann sich Gysi allerdings eine Tolerierung vorstellen. Gysi: „Die Große Koalition in Mecklenburg ist für die Bürger des Landes keineswegs eine vorteilhafte Regierung. Sollte die SPD in Mecklenburg also einmal aus der Großen Koalition ausscheiden, dann könnte man über eine Duldung oder Tolerierung nachdenken. Dazu rate ich meiner Fraktion.“

Am 29. Oktober trifft der neue SPD- Lenker Lafontaine Gregor Gysi. Mit Kerstin Müller, Fraktionssprecherin der Grünen im Bundestag, kam es bereits zu einer Begegnung. Zwei Stunden sprachen Lafontaine und die grüne Linke am Montag über Oppositionsstrategie. „Sie können sehr gut miteinander“, hieß es nach dem Gespräch in der Umgebung der Fraktionssprecherin.

Unterdessen hat Oskar Lafontaine gestern ein Zehn-Punkte-Programm gegen Arbeitslosigkeit vorgestellt. Es sieht vor, daß Überstunden nicht mehr bezahlt, sondern mit Freizeit ausgeglichen werden sollen. Weitere wesentliche Punkte sind Arbeitszeitverkürzung, längere Maschinenlaufzeiten, flexiblere Tarifverträge und die Senkung der Lohnnebenkosten. Mit letzterem könnten kleine und mittelständische Betriebe gefördert werden. Interview mit Gregor Gysi auf Seite 5