Marodierende Gemütsmenschen

Emir Kusturicas Riesenfresko „Underground“ versinnbildlicht einen Zustand der Verwirrung  ■ Von Christian Semler

Ginge es nur darum, daß Emir Kusturica seiner Heimatstadt Sarajevo den Rücken kehrte, als der General Mladić ihr die Gurgel zudrückte; nur darum, daß von ihm seit 1992 kein Wort des Zorns oder des Mitleids zu hören war; nur darum, daß er in Belgrad drehte und serbisches Geld akzeptierte; nur darum, daß er bei der Premiere den Beifall nicht nur der Belgrader Machthaber, sondern auch den eines notorischen Massenmörders, des Kommandanten Arkan, entgegennahm; ginge es nur um die Qualifikation Kusturicas als öffentlicher Person – über seinen neuen Film „Underground“ wäre damit noch nichts ausgesagt. Wimmelt es nicht in den schönen Künsten von politisch wie moralisch bedenklichen Figuren, die uns staunenswerte Werke vermacht haben? Und sollten wir nicht genug von einer Sichtweise haben, die jedes Urteil den Maßstäben politischer Korrektheit unterwirft?

Das Problem ist nur: Kusturicas Riesenfresko, sein fast dreistündiges Epos über die Geschichte Jugoslawiens vom Vorabend des Naziüberfalls 1940 bis zu den Kriegen und Bürgerkriegen der 90er Jahre ist von genau den Leidenschaften, genau der Blindheit und genau der Lebenslüge angefressen, die er aufzudecken vorgibt.

Kusturica will uns ein Verhängnis erklären: Wie ganze Völker nicht von einem wüsten Traum loskommen, nicht in der Lage sind, sich von kollektiver Hysterie zu befreien. Im Fall Jugoslawiens ist es der Mythos vom Partisanenkrieg, der, Kusturica zufolge, die Phantasie an die immer gleiche Abfolge von Martyrium, Aufstand, Befreiung und erneutem Leiden kettet. Wo der immer gleiche eingebildete Feind, der großdeutsche Imperialismus, die Völker Jugoslawiens entzweit, sie in die Rolle der Verräter einerseits, der Standhaften andererseits zwingt, sie dem immer gleichen, fehlerhaften Kreislauf der Gewalt unterwirft. Wo nur zu einem Götzen gebetet wird: dem der Rache.

Um diesen Zustand der Verwirrung zu versinnbildlichen, greift Kusturica zu einer ebenso einfachen wie suggestiven Allegorie: zu Haus und Keller. Das Haus steht für die Realität, für die manifeste Geschichte, der Keller, besser ein verzweigtes Kellersystem, für die Arbeit des kollektiven Unbewußten, für das Kraftwerk der Gefühle, für den „Underground“. Im Keller schuftet unter der Leitung von Blacky (Lazar Ristovski), einem Gemütsmenschen mit eisenhartem Schädel und unverrückbaren Grundsätzen, eine Schar von Belgrader Widerstandskämpfern, Kind und Kegel eingeschlossen. Vom eigenen, inbrünstigen Gesang („Genosse Tito, wir bleiben dir ewig treu“!) angefeuert, geht die Herstellung von Waffen flott von der Hand. Nicht nur Gewehre und Granaten, sogar ein leibhaftiger Panzer sind die Frucht der patriotischen Anstrengungen. Im Haus hingegen hält Marko (Miki Manojlović), Intellektueller, Poet und kommunistischer Parteigenosse, den Kontakt zur kämpfenden Partisanengruppe.

Die revolutionäre Arbeitsteilung hat eine teuflische Pointe. Längst ist der Krieg gewonnen, längst ist Tito zum Herrscher des neuen Jugoslawien aufgestiegen. Aber die „Unterirdischen“, von Marko raffiniert getäuscht, produzieren weiter Jahr um Jahr Waffen für die Front. Sie gelten als gefallene Heroen des Partisanenkriegs, und Marko, leitender Kulturfunktionär und Vertrauter Titos, läßt ihr Andenken bei Denkmalsenthüllungen hochleben. Er stiehlt seinem Freund Blacky nicht nur die Zukunft, sondern auch die Geliebte Natalija (Mirjana Joković), eine Schauspielerin von lockeren Sitten, die Blacky einst bravourös – und auf offener Theaterbühne – ihrem deutschen Beschützer entführt hatte.

Doch merkwürdig – die Realität des Nachkriegsjugoslawien, virtuos von Kusturica aus Dokumentarmaterialien montiert, erscheint unbefriedigend, eintönig, öde. Das Leben ist anderswo, im Unterirdischen. Dort leuchtet die Hoffnung, quillt das Leben über. Dort ist der Schauplatz überbordender Lustbarkeiten. Bei der Hochzeitsfeier von Blackys Sohn geschieht, worauf der Zuschauer eine Stunde lang sehnsüchtig gewartet hatte: Ein Schuß aus dem hauseigenen Panzer, zufällig ausgelöst von dem geretteten Keller-Äffchen, befreit das Produzentenkollektiv. Aber just an der Stelle, wo Blacky und sein Sohn nach 20 Jahren wieder das Licht des Mondes sehen, laufen Nachtaufnahmen für einen Film, die Blackys Heldentaten verherrlichen. Der glaubt, die Schauspieler in Wehrmachtsuniform seien die leibhaftigen Nazi-Okkupanten und streckt ihren Anführer, seinen alten, überhaupt nicht gealterten Feind, den blonden Franz, nieder. So nimmt das Verhängnis seinen weiteren, überaus verschlungen Lauf.

Die aneinandergeketteten Protagonisten, Blacky, der edle Tor und Marko, der ausgekochte Geschäftemacher, sind Gangster und Patrioten. Der Krieg ernährt sie, und sie ernähren den Krieg. Aber Kusturica ist weit davon entfernt, aus dem Zusammenspiel von Kriminalität und Vaterlandsliebe so etwas wie die Pathologie der jugoslawischen Nachkriegsgeschichte zu destillieren. Die Eingangsszene des Films, in der die beiden betrunkenen Freunde am Vorabend des deutschen Überfalls durch die Altstadt Belgrads kutschieren, begleitet von Pfiffen, Gewehrschüssen und einer Blaskapelle – sie öffnet das Tor zu Kusturicas schrecklichem Wunderland. Was für verrückte, großartige Typen sind wir doch, wir Jugos! Wir mögen Machos sein, Bauchaufschlitzer und Frauenschänder, aber in uns pulsiert noch heißes Blut und keine homogenisierte deutsche Magermilch.

Kusturicas Film wird von einer hinreißenden Musik vorangetrieben, sie ist die einzige Klammer, die eine ausufernde, quälend langgestreckte Fabel zusammenhält. Fast scheint es, als habe der Regisseur die jugoslawische Tragödie nur zum Anlaß genommen, uns seine Manierismen aufzuzwingen. Als habe er die schreckliche Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um uns von brennenden Zootieren (in der zweiten Szene des Films) bis zu brennenden Menschen (in der vorletzten Szene) alles zu präsentieren, was die Ästhetisierung des Grauens herzugeben vermag. Und allein diesem Ziel scheint das ganze gruselige Panoptikum zu dienen, das Gewimmle und Gewusle, die mittlerweile schon obligate, während des Hochzeitsfests herniederschwebende Engels- Braut, die endlosen Passagen, in denen gefeiert, gevögelt, geprügelt und gemordet wird.

Aber es scheint nur so. Kusturica ist kein ästhetischer Kriegsgewinnler. Er steckt selbst bis zum Hals im Sumpf der düsteren Obsessionen, mit denen er sein Publikum doch eigentlich konfrontieren wollte, hantiert mit den gleichen Stereotypen, die die Ursachen und den Verlauf des Krieges in Jugoslawien verdunkeln. Als sein Held Blacky zu Beginn der 90er Jahre als ergrauter Söldnerführer wieder den jugoslawischen Kampfplatz betritt, wird ihm Meldung erstattet: „Wir haben 30 Ustaschas und 50 Tschetniks gefangen, was soll mit ihnen geschehn?“ „Alle sofort liquidieren“ ist die Antwort Blackys. Gezeigt werden soll eine Bande, die in dem neuen 30jährigen Krieg orientierungslos durch die Gegend marodiert und unterschiedslos Kroaten und Serben (von Muslimen ist nicht die Rede) den Garaus macht. Wir werden in einen Veitstanz gestrudelt, der allein schon die Frage nach Schuld und Verantwortung für das allgemeine Gemetzel im ehemaligen Jugoslawien als lächerliche Abstraktion ausschließt. In diesem Tollhaus spielt es eben keine Rolle mehr, daß die grausamsten Untaten, die Morde und Vergewaltigungen in Omarska und einem Dutzend anderer Konzentrationslager, die Massentötung Tausender Zivilisten zuletzt in Srebrenica nicht das Werk durchgeknallter Banditen waren, die auf eigene Rechnung „arbeiteten“. Die Massenmörder folgten militärischen Befehlen und einem eindeutigen Ziel: der ethnischen Säuberung und der Errichtung eines großserbischen Staates. Alle Seiten haben in diesem Krieg Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen. Aber Kusturica wendet nicht einen Gedanken daran, wer die Hauptverantwortlichen sind, und wer seine Hauptopfer. In der Schlußszene seines Films sehen wir seine ganze Personnage wiederauferstanden am Flußufer versammelt. Man feiert das große Wiedersehensfest, als der Uferrand unter der ausgelassenen Schar wegbricht und sie auf einem Stückchen Erde in die Ferne getrieben werden – Traum- und Versöhnungskitsch.

„Underground“ von Emir Kusturica. Kamera: Cilko Filać, Musik: Goran Bregović. Mit Miki Manojlović, Mirjana Joković, Ernst Stötzner u.a. Deutschland/Frankreich 1995, 169 Min.