„Wir haben es satt, auf die Lösung zu warten!“

■ Brasiliens Landlose setzen die Regierung unter Druck. Nach blutigen Zusammenstößen will Präsident Cardoso die stockende Landreform beschleunigen

Rio de Janeiro (taz) – In Brasilien verschärft sich der Konflikt zwischen Landlosen und Großgrundbesitzern. Nach drei gewaltsamen Räumungsaktionen mit dreizehn Toten und mehreren Hundert Verletzten in den vergangenen zwei Monaten kündigte Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso jetzt an, durch zusätzliche Enteignungen und neue Gesetzesentwürfe die Agrarreform beschleunigen zu wollen.

Ursache der erbitterten Schlachten zwischen Anhängern der Landlosenbewegung „Movimento Sem Terra“ (MST) und schwer bewaffneten Polizisten im Landesinneren sind die Ungerechtigkeiten der brasilianischen Justiz. Während die Eigentümer unproduktiver Latifundien vor Gericht gegen die Enteignung ihres Grundstückes und die Entschädigungssumme Einspruch erheben können und somit die Agrarreform um Jahre verzögern, müssen Landbesetzer polizeilicher Gewalt weichen. Dennoch besteht Cardoso auf der „ehrgeizigen Utopie“, in den kommenden vier Jahren 280.000 Familien mit Land zu versorgen.

Beim jüngsten Zusammenstoß zwischen 60 landlosen Familien und 90 Militärpolizisten am Mittwoch vor einer Woche im brasilianischen Bundesstaat Parana auf der „Fazenda Saudade“ waren 23 Menschen verletzt worden. Der Konflikt ist typisch für die verfahrene Praxis von Enteignungsprozessen in Brasilien. Die landlosen Familien besetzten die Farm, die am 25. März dieses Jahres durch ein Dekret Präsident Cardosos enteignet worden war, in der Hoffnung, den Prozeß der Ansiedlung zu beschleunigen. Da der Besitzer vor Gericht die Entschädigungssumme anficht, ist der Fall jedoch bis auf weiteres in den Händen der brasilianischen Justiz.

Nach einem Räumungsbefehl schlugen die Landlosen am Rande der Bundesstraße BR-218 ihre Zelte auf, bis sie dort ebenfalls durch einen Gerichtsbescheid vertrieben wurden, weil sie angeblich den Verkehr blockierten. Verzweifelt unternahmen sie einen neuen Anlauf und zogen wieder auf die „Fazenda Saudade“.

Präsident Cardosos jüngster Gesetzesentwurf, der dem brasilianischen Kongreß zur Entscheidung vorliegt, sieht vor, den gerichtlichen Streit über die Höhe der Entschädigungssumme von der De-facto-Enteignung abzukoppeln. Falls der Entwurf die Legislative passiert, kann die brasilianische Behörde für Agrarreform schon 48 Stunden nach dem Enteignungsdekret damit beginnen, landlose Familien auf dem betreffenden Grundstück anzusiedeln.

Unterdessen setzt die Landlosenbewegung die brasilianische Regierung weiter unter Druck. „Wir haben es satt, auf eine Lösung zu warten und zu hungern“, stellte David Souza klar, der MST- Anführer im Bundesstaat Minas Gerais. Die Familien auf der „Fazenda Barriguda“ würden täglich einen Bullen abschlachten, bis die von der Regierung versprochenen Grundnahrungsmittel einträfen. Die Fazenda wurde von der Agrarbehörde „Incra“ bereits als unproduktiv und damit enteignungsfähig eingestuft, doch der Besitzer erhob gegen diese Bewertung vor Gericht Einspruch.

In den letzten zehn Jahren wurden in Brasilien tröpfchenweise 13 Millionen Hektar Land an 265.000 Kleinbauern und ihre Familien verteilt. Auf die enorme Konzentration von Großgrundbesitz hatte dies keinen Einfluß: Noch immer wird die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche Brasiliens von 1,2 Prozent der Landbesitzer kontrolliert. Drei Millionen Kleinbauern kämpfen auf Minischollen mit einer durchschnittlichen Größe von 3,1 Hektar ums Überleben. Über 29.000 landlose Familien träumen unter schwarzen Plastikplanen am Straßenrand vom eigenen Grund und Boden. Astrid Prange