Noch Schonung für die neuen Zähne

■ Warum die Briten im Europaparlament gegen einen Ausschuß zu Atomtests sind

Brüssel (taz) – Das Europaparlament hat ein neues Gebiß. Seit letzter Woche können die Abgeordneten in Straßburg Untersuchungsausschüsse mit Zeugenbefragung einrichten. Das neue Recht geht auf den Maastrichter Vertrag zurück, aber es hat bis jetzt gedauert, bis die Einzelheiten geregelt waren. Nun suchen die Europaparlamentarier nach einem passenden Gegner zum Beißen. Er sollte bekannt und gefürchtet, aber doch nicht zu stark sein. Das Parlament möchte aus seinem ersten Kampf mit den neuen Zähnen schließlich als strahlender Sieger hervorgehen. Zum Ärger der beiden großen Fraktionen liegt seit Monaten ein Antrag der Grünen vor, die seltsamen Vorgänge in der EU-Kommission rund um die Atomtests zu untersuchen. Die Konservativen sind aus Prinzip dagegen, den Ausschlag geben deshalb die Sozialisten. 177 Abgeordnete haben den Antrag unterschrieben, darunter auch die Hälfte aller Sozialdemokraten und Sozialisten.

Doch deren sonst so kämpferische Fraktionschefin, die britische Labour-Abgeordnete Pauline Green, sträubt sich. Einmal hieß es aus ihrer Umgebung, es sei zu kompliziert, sich bei zehn beteiligten Parteien auf den Ausschußvorsitz zu verständigen, ein andermal, es sei für das Ansehen des Hohen Hauses schädlich, wenn gleich der erste echte Untersuchungsausschuß in eine so vertrackte Materie beißen würde. Wie sähe das denn aus, wenn französische Regierungsbeamte einfach die Aussage verweigerten und zum Schluß gar nichts herauskäme?

Frau Green hat jedoch vor allem ein anderes Problem. Seit sich der britische Labour-Chef Tony Blair in London ernsthaft auf eine Regierungsübernahme vorbereitet, erwartet er auch von den Straßburger Labour-Leuten Zurückhaltung bei der Kritik an allem, was mit Atomwaffen zusammenhängt. Schließlich will er selbst bald Herr über den roten Knopf sein, und die Abschaffung der britischen Atomraketen gehört nicht zu seinem Programm.

Doch das Papier mit den vielen sozialistischen Unterschriften gegen die Atomtests liegt nun mal auf dem Tisch. Im Präsidium des Parlaments entscheiden die zehn Fraktionsführer mit dem Gewicht ihrer Mitglieder. Der Chef der konservativen Volksparteien, Wilfried Martens, verfügt über 173 Stimmen, Pauline Green über 217. Gemeinsam können sie alles niederstimmen. Doch wie sollte Frau Green angesichts der Unterschriften behaupten, ihre Fraktion sei gegen den Untersuchungsausschuß? Als das Thema letzte Woche im Parlamentspräsidium anstand, verließ sie in schöner Eintracht mit dem konservativen Martens vorzeitig die Sitzung – damit konnte nichts beschlossen werden.

Aber irgendwie zubeißen wollen die großen Parteien schon, und deshalb wird es voraussichtlich einen Untersuchungsausschuß geben, der hinter Verschwendung und Betrug herforschen wird. Das Thema ist populär, schlagzeilenträchtige Ergebnisse sind so gut wie sicher, und außerdem hat der Europäische Rechnungshof in seinem Jahresbericht gerade prächtige Fährten gelegt. Warum sollte man die Lorbeeren der Wachsamkeit allein den Rechnungsprüfern überlassen? Alois Berger