„War Ali schon damals Sozialist?“

Die Alewiten verehren Ali, den Schwiegersohn Mohammeds. Sie sind für die Trennung von Staat und Religion, ihre Frauen sind unverschleiert, ihre religiösen Rituale ungewöhnlich  ■ Von Dilek Zaptçioglu

Sie hat die schönsten grünen Augen, die ich je gesehen habe, und besitzt den Rang einer „Mutter“. Ihr Mann ist „Dede“, unter den Alewiten ein weiser, charismatischer Führer. Dem überläßt sie aber ungern das Wort, wenn sie von ihrer Gemeinde erzählt, wieviel Unterdrückung sie erlitten haben und immer noch erleiden. „Weißt du denn, was Alewitentum ist?“ fragt sie mich forsch und zählt auf: „Wir sind gegen die Schariah, bei uns gibt es keine Schleier, Frauen und Männer sind gleich, wir verwechseln den Glauben nicht mit Politik, Staat und Religion gehören getrennt.“ Dann zeigt sie auf ihren stumm lächelnden Mann und sagt: „Weißt du, wenn der mich unter schwarze Laken stecken wollte, würde ich mich auf der Stelle scheiden lassen!“ Dede lächelt noch: „Bei uns gibt es keine Scheidung.“ Macht nichts. Er weiß Bescheid. Die alewitischen Frauen brauchen offensichtlich keine feministische Nachhilfe.

Im März diesen Jahres lernte die Weltöffentlichkeit eine neue Komponente des türkischen Mosaiks kennen: die Alewiten. Im Istanbuler Vorort Gazi hatte es schwere Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und der alewitischen Bevölkerung gegeben, nachdem Kaffeehäuser von Unbekannten beschossen worden waren und ein Mann dabei ums Leben gekommen war. Die Totenbilanz der Protestaktionen am 13. März: 18 Kinder, Frauen, Männer. Mehrheitlich durch eine einzige Kugel aus weiter Entfernung getötet...

In jenen Tagen gaben sich Kollegen aus aller Welt auch bei den Berliner Alewiten die Klinke in die Hand. Tief im Wedding über einem Hochzeitssalon befinden sich die kleinen Räume des Kulturzentrums anatolischer Alewiten. Unzählige Interviews haben sie wochenlang gegeben, immer brav auf die Frage geantwortet, „ob sie denn jetzt auch zur Gegengewalt übergehen“ wollten und „die Konflikte nach Deutschland übertragen“ würden. Natürlich nicht. Noch nicht.

Monate später ist das Interesse an den Alewiten, war es denn anders zu erwarten, wieder völlig abgeebbt. Beim diesjährigen Newroz-Fest, dem Geburtstag von Hazreti Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, ihrem veehrten Namensgeber, sind sie fast wieder unter sich. Nur eine eifrige junge WDR-Reporterin bahnt sich aufgeregt ihren Weg durch die riesige Menschenmenge, der Kameramann im Gefolge ist damit beschäftigt, Kabel zu entknoten. Wo höchstens 200 Leute hineinpassen, sind diesmal über 400 versammelt, meist Jugendliche. Knappe Pullis, kurze Röcke, überall baumelt das seidenweiße Gesicht Hz. Alis, auf Anhängern, Ohrringen, Armreifen. Und sein zweispitziges Schwert, Zülfükar, das alewitische Symbol gegen Unterdrückung.

Unterdrückt sind sie seit 1.400 Jahren, die Alewiten. Das Alewitentum, die eigene Islaminterpretation der anatolischen Landbevölkerung, trägt viele fremde Elemente in sich, vom Schamanismus der Türken in Zentralasien bis hin zum Buddhismus und Judentum. Den Kult um Ali und zwölf Imame, die auch in den Berliner Vereinsräumen auf Wandbildern zu sehen sind, haben sie mit den iranischen Schiiten gemeinsam. Aber darin erschöpft sich auch die äußere Ähnlichkeit. Anton Josef Dierl sagt es in seinem – bislang besten deutschsprachigen – Werk über den Alewismus-Bektasismus in Anatolien etwas hochgestochen, aber treffend: „Die Psychostruktur der Alewiten, das instinktive Bewußtsein, daß es sich im Kern des Alewismus um einen Kult mit dem Menschen handelt (und nicht um einen Kult mit Gott) und daß eine sozialistische Linie vorliegt, macht die Alewiten, namentlich die alewitische Jugend, anfällig für moderne, ,progressive‘ Ideologien.“

Wenn man die strenggläubigen Sunniten fragt, machen die Alewiten alles verkehrt: Sie lehnen es ab, fünfmal am Tag zu beten und schon gar nicht in einer Moschee. Auf ihren Gebetszeremonien wird getanzt und Wein getrunken. Sie fasten nicht im Ramadan, sondern im Monat Muharrem, und das auch nur zwölf Tage lang, indem sie kein Wasser trinken und kein Fleisch essen. Sie lehnen die Verschleierung – tesettür – ab, alewitische Frauen sind überall präsent. Sie glauben an die Natur als die sichtbare Gestalt Gottes, und vor allem glauben sie an den perfekten Menschen, wie er in Hz. Ali verkörpert ist. Im Berliner Verein, dem Vorläufer der Ende Oktober 1993 gegründeten Förderation Alewitischer Vereine in Europa, der allein aus dem Bundesgebiet über 100 Vereine angehören, gibt es an diesem Feiertag einen langen Vortrag über all diese Themen. Die Jugend soll an die Grundsätze des Glaubens herangeführt werden. Während die Kinder sich die Zeit mit Gameboys vertreiben, hören die jungen Menschen geduldig zu. Danach wird die Diskussionsrunde eröffnet. Wie gut sie tatsächlich zugehört haben, ergibt sich aus den vielen Fragen: „Ob Hz. Ali schon damals Sozialist gewesen sei“, will einer wissen. „Und gab es denn den Gedanken vom perfekten Menschen nicht schon bei Konfuzius?“ Weil soviel von Arabien geredet wurde, „sind wir nun eigentlich Araber oder Anatolier?“ Als alle sich darüber einig sind, daß die Sozialisten und Demokraten zu den „natürlichen Verbündeten der Alewiten“ zählen, endet die hitzige Debatte, und die Frauen können endlich die mitgebrachten Lokma- Leckerbissen herumreichen, die ein fester Bestandteil jeder Alewitensitzung sind. Danach wird Platz gemacht für die Semah-Tanzgruppe des Vereins, junge Mädchen und Männer tanzen nach einem bestimmten Rhythmus, der WDR-Kameramann ist ganz entzückt und versucht Nahaufnahmen von den Ali-Kolliers auf den großzügigen Dekolletées zu machen, wobei er das Tanzritual erheblich stört. Aber auch das wird geduldig hingenommen, Pressefreiheit als heiliges Gut.

Die alewitische Renaissance geht auf ein Trauma neueren Datums zurück: Sivas. Am 2. Juli 1993 wurden im ostanatolischen Städtchen 37 Schriftsteller, Dichter, Sänger und Studenten lebendig verbrannt, vom aufgebrachten reaktionären Mob. Das traditionelle Pir-Sultan-Abdal-Festival wurde in Blut gebadet, das Ziel war vor allem Aziz Nesin, der mit seiner Initiative, die „Satanischen Verse“ Rushdies zu drucken, zur Zielscheibe des islamistischen Terrors geworden war.

Sivas gab den Alewiten, die in den 70er Jahren schon in Corum,

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Maras und anderen anatolischen Städten Massaker erlebt hatten, den letzten Anstoß zur gründlichen Neuorganisation. Die Ereignisse im Istanbuler Stadtteil Gazi bildeten ein weiteres Glied in der Kette. Die schätzungsweise 500.000 Alewiten in Deutschland gründeten ihren Dachverband mit Sitz in Köln. Und schließlich schlossen sich alle in- und ausländischen Vereine in der Türkei zu einer Förderation zusammen, in der der deutsche Zweig finanziell und ideologisch großen Einfluß hat. Den ersten alewitischen Verein gab es schon gegen Mitte der 60er Jahre in Augsburg. „Taleb“, die „Union der türkischen Alewiten“, benutzte damals nur die Abkürzung, um nicht als solcher erkannt zu werden.

Heute treten sie viel selbstbewußter auf, wissen sie doch um ihre starke wirtschaftliche Kraft. Die Alewiten sind aus Gründen der Unterdrückung die ersten gewesen, die ihre anatolische Heimat verließen und in die türkischen Großstädte oder ins Ausland emigrierten. So haben sie sich überall auch geschäftlich gut fortentwickelt. Wirtschaftliche Konkurrenz war stets mit ein Grund für Angriffe auf Alewiten in der Türkei.

Auch in Berlin machen sie unter den türkischen Selbständigen eine große Zahl aus, und je größer ihr politisches Bewußtsein, desto stärker spielen sie ihre finanzielle Macht aus, um gegen Diskriminierung zu kämpfen – so auch nach den Ereignissen im März, als alewitische Geschäftsleute im türkischen Lokalsender TD 1 Sendezeit mit der Drohung erzwangen, andernfalls ihre Werbung zurückzuziehen.

In Deutschland bauen Alewiten langsam ihre eigene Infrastruktur mit Geschäften und Lokalfernsehen, mit Bestattungsunternehmen und Hochzeitssalons auf. In den Berliner Vereinsräumen gibt es viele Angebote für Jugendliche und Frauen, die hier nicht nur Semah-Tänze lernen, sondern auch Computersprachen. In der Amateurliga kickt die „Al-Spor“, manche arbeiten freiwillig bei dem Sender „Alcar lar“ und bei der Zeitschrift Al-Gül mit, die sogar in der Türkei Abonnenten hat. Von Australien bis in die USA gibt es alewitische Vereine, die vor allem auf die Jugend eine große Anziehungskraft haben.

Die Alewiten stehen heute viel stärker zu ihrem Glauben, der für sie ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität ist. Unorthodox und relativ „weltlich“, bietet ihr Glaube auch den jungen Leuten genug Spielraum; sie können diesen Teil ihrer Identität viel problemloser mit ihrer europäischen Umwelt in Einklang bringen als beispielsweise ihre sunnitisch erzogenen Altersgenossen.

Aber sie haben es trotzdem nicht leicht. Die Gefahr hat für die Alewiten viele Gesichter: Die strenggläubigen Sunniten lehnen sie als „Herätiker“ schlichtweg ab; Alewiten sind glühende Anhänger des Laizismus und damit den Islamisten ein Dorn im Auge. Wegen ihrer „linken“ Ideale sind sie mit den Rechtsradikalen verfeindet. Schließlich sind ein Drittel der Alewiten zugleich Kurden, und das bringt sie mit den kurdischen Nationalisten in Konflikt, die ihnen vorwerfen, „Verrat an der kurdischen Sache“ zu üben, da sie sich ausschließlich auf ihr Alewitentum berufen würden.

Während kurdische Nationalisten wie die der PKK Kemal Atatürk ablehnen, sind die Alewiten glühende Anhänger des türkischen Staatsgründers, weil sie erst durch den laizistischen Staat zu größerer Glaubensfreiheit gekommen sind. Der Laizismus ist eine conditio sine qua non für die Alewiten, die Fundamentalisten ihre größte Gefahr. Ihre Verbündeten wollen sie sich in Zukunft besser aussuchen. Der letzte Woche mit überwältigender Mehrheit in seinem Amt bestätigte Vorsitzende der Föderation in Köln, Ali Riza Gülçiçek, sagt es kurz und bündig: „Wir lassen uns nicht mehr von jedem über den Tisch ziehen.“