■ Barcelona-Konferenz zur „Süderweiterung“ der EU: Nichts als eine Freihandelszone?
Gegenwärtig findet in Barcelona einen große Mittelmeerkonferenz statt, auf der die weitere Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und den Mittelmeeranrainerstaaten erörtert wird. Die EU hat 1995 ein neues Programm „Meda“ entwickelt, für das die Kommission im Haushalt bis 1999 Mittel in Höhe von fünf Milliarden Ecu vorgesehen, nur 1,5 Milliarden Ecu weniger als für die osteuropäischen Länder.
Ins Programm aufgenommen wurden die Maghreb-Staaten Algerien, Marokko, Tunesien (außer Libyen mit seiner 1.500 Kilometer langen Mittelmeerküste), die Maschrek-Staaten Ägypten, Israel, Jordanien, Libanon, Syrien, der Gaza-Streifen und die Westbank (die von Marokko besetzte Westsahara ist ausgenommen, Albanien ebenfalls) und die drei Länder, die sich um eine EU-Mitgliedschaft bemühen: Türkei, Zypern, Malta. Bei dieser „neuen Mittelmeerpolitik“ stehen die wirtschaftlichen Interessen der Regierungen der Europäischen Union im Vordergrund. Das wird allein schon daraus ersichtlich, daß die zwölf Nicht-EU-Mittelmeerstaaten nicht an den Vorbereitungen dieser Konferenz beteiligt und sogar erst in allerletzter Minute nach Barcelona geladen wurden. Soziale Bewegungen, Gewerkschaften oder regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) wurden weder befragt noch hinzugezogen. Deshalb organisieren etwa 50 NGOs eigene Alternativveranstaltungen.
Die EU-Strategie lief bisher darauf hinaus, den Export und Handel zu erhöhen, um einen Anreiz für Investitionen zu schaffen und damit zur wirtschaftlichen Entwicklung der Nicht-EU-Mittelmeeranrainerstaaten beizutragen. Die wirtschaftlichen Probleme wurden keineswegs gelöst, sondern im Gegenteil eher verschärft.
Das durchschnittliche Pro- Kopf-Einkommen der nördlichen EU-Mittelmeerländer ist etwa zehnmal höher als das ihrer Nachbarn im Süden. Die Handelsbilanz der südlichen Mittelmeeranrainerstaaten verschlechterte sich zunehmend. Durch sogenannte „freiwillige Selbstverpflichtungsabkommen“ und durch Kontingente hatten bestimmte Produkte wie Nahrungsmittel und Textilien erschwerten Zugang auf den europäischen Markt. Die massiven EU- Exporte von subventionierten Lebensmitteln führten zu einer ständig wachsenden Abhängigkeit – ein offener Widerspruch zu den erklärten Zielen der EU, die Selbstversorgung zu unterstützen. Das gleiche gilt für die rasch anwachsende Verschuldung.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und den damit verbundenen Auseinandersetzungen um eine mögliche Erweiterung der EU nach Osten hat zunehmender Druck auf die Kommission der EU, das Europaparlament und verschiedene Mitgliedstaaten bewirkt, daß die „Süderweiterung“, ein „euro-mediterraner Wirtschaftsraum“, Thema wurde. Eine legislative Grundlage ist bisher nicht verabschiedet. Einige Regierungen von EU-Mitgliedstaaten erwarten von dieser Politik größere politische Stabilität im Mittelmeerraum, wirtschaftliches Wachstum, eine Eindämmung der Migrationsströme und fordern institutionelle Reformen, deren Entwürfe bis zur Regierungskonferenz 1996 vorgestellt werden sollen. Geplant ist bisher nichts weiter als die Ausweitung des Binnenmarkts über das Mittelmeer hinaus. Die von der EU anvisierte Freihandelszone im Jahre 2010 soll 600 Millionen bis 800 Millionen Einwohner in 30 oder 40 Ländern umfassen. Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt die Kommission folgende Schritte vor:
– Standardisierung der gesetzlichen und administrativen Normen, Öffnung der Märkte der mediterranen Nicht-EU-Mitgliedsländer, Förderung des Exports;
– Dynamisierung des privaten Sektors, Modernisierung der Industrie und des administrativen und politischen Rahmens;
– Förderung der europäischen Direktinvestitionen und der industriellen Zusammenarbeit, Privatisierung und allgemeine Deregulation;
– Anpassungen in wirtschaftlicher und sozialer Infrastruktur.
Dieser Prozeß der Angleichung zum Vorteil europäischer Unternehmen und Finanzinstitutionen ist ganz nach den Bedürfnissen der EU geformt. Exportorientiertes Wirtschaftswachstum kommt allenfalls den Eliten in den Mittelmeerländern zugute. Die Strategie der einseitigen ökonomischen Hilfe vernachlässigt zudem die ökologischen und sozialen Aspekte völlig. Weitaus sinnvoller wäre es, die regionale Entwicklung im Mittelmeerraum voranzutreiben und eine solidarische, ökologische, demokratische Partnerschaft anzustreben. Das heißt:
– Die Interessen der mediterranen Nichtmitgliedstaaten müssen gleichberechtigt berücksichtigt werden – dies gilt insbesondere für den Textil- und Agrarmarkt. Sie und die NGOs müssen von vorn herein in die Entscheidungsprozesse mit einbezogen werden. Vor allem dezentrale, lokale und regionale, kleine und mittlere Strukturen sowie Unternehmen sollten gestärkt und vorzugsweise an sie Kredite vergeben werden.
– Die Finanzierung bedarf einer anderen Struktur. Die Mittel für das Meda-Programm dürfen nicht aus dem Entwicklungshaushalt der EU kommen, also zu Lasten anderer sogenannter Entwicklungsländer in Afrika, Asien, Lateinamerika gehen, die Ärmsten nicht gegen die Armen ausgespielt werden. Um das Meda-Programm zu finanzieren, beabsichtigt der Rat die grundsätzliche Streichung der Haushaltslinien Frauen und Dritte Welt, Ökologie und Dritte Welt sowie Dezentralisierung. Der Entwicklungsausschuß und das Europaparlament haben sich dem in der ersten Lesung des Haushaltes 1996 erfolgreich widersetzt. Im Sinne einer pragmatischen Politik kann ich mir einen „Mittelmeerselbsthilfefonds“ vorstellen.
– Insbesondere Initiativen aus der Region wie das „Bündnis der Städte im Mittelmeerraum zur Umsetzung der Agenda 21“ müssen gefördert werden.
– Die Entwicklung muß soziale Komponenten berücksichtigen. Mutterschutz, gleiche Bezahlung für Männer wie Frauen und so weiter müssen bindend sein und demokratische Kontrollmechanismen einschließen.
– Die Programme müssen der Umwelt angepaßt, auf die Bedürfnisse der lokalen Märkte ausgerichtet sein und Boden und Rohstoffe schonen. Weder Industrien mit hohem Energieverbrauch, noch gentechnische Lebensmittel oder toxische Abfälle dürfen in die südlichen Länder transferiert werden.
Barcelona bietet eine Chance. Ein erster Schritt für eine eigenständige Entwicklung aus der Region heraus könnte zunächst eine „Mittelmeerversammlung“ sein, in der Regierungen, NGOs, Städtebündnisse, soziale Bewegungen (Gewerkschaften) vertreten sind. Wilfried Telkämper
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