Am Rande des Verklingens

■ Chamäleonartige Klangtupfer beim Morton Feldman-Podium bei Radio Bremen

„Zeit haben ist passé in einer Welt der Umtriebigen und Geschäftigen ... Sich selbst für irgendetwas Zeit nehmen oder sie gar jemand anderem lassen, ihm schenken, gilt als überflüssig, als Verschwendung, als Luxus“. Das Phänomen menschlicher Rastlosigkeit hat der 1987 gestorbene amerikanische Komponist Morton Feldman nicht als erster erkannt. Es wird beklagt von Kohelet im Alten Testament bis zu Michael Endes „Momo“. Aber eben weil es dieses Phänomen weiterhin zu beklagen gibt, ist es so wichtig, ihm immer wieder neu Gehör zu schenken.

Wie am Montag abend im ausverkauften Sendesaal von Radio Bremen mit dem bisher größten Feldman-Projekt in dieser Stadt. Feldmans Musik ist eine der Behutsamkeit, der Stille und der leisen Töne, des Nachhorchens und Hineinhorchens, der Langsamkeit und damit der Achtung vor dem Klang. Sieben Stücke brachte das Freiburger „ensemble recherche“ in zwei Konzertteilen zur Aufführung; vom eineinhalb Minuten- Stück „Piece for Violin and Piano“ bis zum anderthalbstündigen „Crippled Symmetry“.

Für MusikerInnen ist die Wiedergabe von Feldmans Musik eine Gratwanderung: Fragiles, wenige Noten und zarteste Tupfer am Rande des Verklingens sind darzustellen, Doch buchstäblich atemberaubende Momente gelangen da etwa dem Hornisten Stephan Fellhauer, der mit minimaler Luft den Klang seines Instruments fast chamäleonartig zu färben verstand. Das Ensemble machte erfahrbar, warum es nicht das Laute, sondern das Leise und Fragile ist, was zum Zuhören geradezu zwingt.

Herauszuheben ist außerdem die Sopranistin Maaccha Deubner, die auch Stücken mit aphoristischer Kürze eine sich nach vorne steigernde Dramatik verlieh, verstärkt durch ihre ausdrucksvolle Gestik.

Sich eineinhalb Stunden auf ein äußerst langsames und leises Stück einzulassen, erfordert ein Höchstmaß an Kondition und Konzentration von SpielerInnen und HörerInnen. „Crippled Symmetry“ für Klavier, Flöte und Schlagzeug ist eines der Stücke, in denen Feldman die Form des Konzertstückes als Frontalereignis verläßt: Hier bekommt Zeit eine neue Dimension. Es entsteht eine Art von Zeitlosigkeit, ein Schwebezustand, in den HörerInnen und SpielerInnen gleichermaßen involviert sind, in dem beide Teile zu einer „Gemeinde“ zusammenwachsen.

Und tatsächlich war es das erstaunlichste Phänomen des Abends, daß das Publikum sich von Martin Fahlenbock (Flöte), Marc C. Reichow (Klavier) und Christian Dierstein (Schlagzeug) zu neunzig Minuten absoluter Stille und Konzentration erziehen ließ. Folgerichtig gab Christian Dierstein einen Teil der heftigen Ovation zum Schluß an das Publikum zurück.

Ulrich Matyl