Vier Spuren Beton in den Köpfen

Protest gegen die Ostseeautobahn kommt vor allem aus dem Westen, die Mecklenburger glauben an den Aufschwung durch Autoverkehr – bis auf ein paar verfrorene Demonstranten im Hüttendorf  ■ Von Torsten Preuß

Eigentlich ist die Straße eine Legende. Früher, als die Autos noch Trabant, Polski-Fiat, Moskwitsch oder Sapporosch hießen, war die F96 die Route 66 der DDR. Mit einem Unterschied vielleicht: Die F96 war immer voll. Vor allem im Sommer ging es auf der Straße, die den Süden mit dem Norden der DDR verbindet, zu wie Freitag nachmittag vor einer Kaufhalle, wenn Radeberger Bier verkauft wurde: Man stand Schlange. Nördlich der Hauptstadt der DDR, in dem Gebiet, das sich heute Mecklenburg-Vorpommern nennt, war es besonders schlimm. Wer Glück hatte und einen Urlaubsplatz in einem der Ostseebäder zugeteilt bekam, mußte zur Anreise die Landstraßen nehmen und stand dann im Stau.

Nicht nur, aber auch deswegen waren die Werktätigen hocherfreut, als sie 1990 Teil des Landes wurden, das die höchste Autobahndichte Europas hat. „Was die haben, wollen wir auch“, forderten die Mecklenburger, und weil einer aus ihrem Bundesland damals in Bonn Verkehrsminister wurde und gleich so ordentlich Gas gab, daß er sich den Zunamen „Sausekrause“ redlich verdient hatte, wurde aus dem fixen Wunsch tatsächlich ein richtiger Plan.

Günther Krause, CDU, versprach seinen Wählern freie Fahrt durchs neue Bundesland und brachte ein Projekt in die Gänge, das heute als das größte Bauvorhaben der Bundesrepublik Deutschland gilt: Die „Ostseeautobahn A20“. Von Lübeck im Westen soll sie vorbei an Wismar, Rostock und Greifswald bis hinter Prenzlau führen und im Osten auf die A11 stoßen. Berliner und Sachsen könnten künftig über die alte A11 und die neue A20 an die Ostsee fahren. Viel zu sehen gibt es noch nicht. Nur einzelne rot-weiße Pfähle stecken manchmal mitten im Grünen und zeigen an, wo später der Wald sterben wird.

Zur Zeit existiert die Piste hauptsächlich in den Köpfen der Menschen; und die versprechen sich von den vier Spuren Beton nicht nur mehr Platz für ihre neuen Wagen, sondern eigentlich die Lösung aller Nachwendeprobleme. Das neue Bundesland im Norden ist zwar schön aber arm, der „Aufschwung Ost“ ein Bonner Phantom. Die Arbeitslosenquote beträgt über 16 Prozent. Helfen kann da nur die Autobahn. Das jedenfalls predigen deren Anhänger und Verfechter. Die „Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH“, kurz Deges, die im Auftrag der Bundesregierung sämtliche neuen Bundesstraßen im Osten Deutschlands plant und bauen läßt, klotzt in ihren Hochglanzbroschüren, die kiloweise im Land verteilt wurden: „Arbeitsplätze durch die Autobahn“ verspricht sie und: „Langfristig werden zahlreiche Dauerarbeitsplätze entstehen“, zum Beispiel „in den Tankstellen und Raststätten“ entlang der Trasse. Wer sonst nicht viel zu hoffen hat, glaubt lieber das als gar nichts, weshalb die Menschen hier sauer auf die reagieren, die mit Protestaktionen fordern: „Keine Ostseeautobahn!“ Viele sind es nicht, die sich Volkes Wagen entgegenstellen, und leicht haben sie es auch nicht. Achtzig Prozent aller Mecklenburger sind für den „Krause-Highway“, der auch mal „Startbahn Ost“ genannt wird.

Wer heute auf der F96, die nun B96 heißt, entlangfährt, der muß sich schon anstrengen, um in der Nähe der Kreisstadt Jarmen auf einer Wiese die schwarze Flagge zu erkennen. Hier kampieren „die Bekloppten“, die „Umweltscheißer“ oder schlicht „die Chaoten“. Sagen zumindest die Einwohner von Jarmen, die sich vom Anschluß an die A20 neue Investoren in der Gegend versprechen.

Dabei sieht das Camp auch von nahem betrachtet ganz friedlich aus. Am Horizont geht die Sonne unter, und die Hütten aus Gras, Blech und Holz stehen ein letztes Mal an diesem Tag im frühwinterlichen Licht. Kein schlechter Platz, um ein Stück Natur zu genießen. Nur leider ist es November und langsam bitter kalt, und außerdem soll gerade hier, wo das „Hüttendorf gegen die A20“ aufgeschlagen wurde, die Natur zerstört werden. „Wir stehen an dem Platz, wo die Autobahn das Peenetal überqueren soll“, sagt Max, der eigentlich ganz anders heißt, aber Angst hat, daß er wegen seiner Antihaltung vom Staat schwer verfolgt werden könnte. Das Peenetal gilt als das „größte intakte Flußtalmoor im südbaltischen Raum“. Spätestens wenn sich die Karawanen der Wohlstandsgesellschaft über das Flußtal wälzen, werden sich die Fischotter, die Blaukehlchen, der Elbebiber und die Labfrösche zusammen mit allen anderen geschützten und ungeschützten Tierarten eine neue Heimat suchen müssen. „Wir haben die Schnauze voll, daß immer mehr von unserer Umwelt zerstört wird“, schimpft Anna, die natürlich auch ganz anders heißt.

Das Grundstück, auf dem sich ein Stamm von etwa zehn Leuten festgesetzt hat, gehört einem Pächter, der sich mit den Besetzern solidarisiert hat. Zweimal bekam er von der zuständigen Behörde des Landkreises Ostvorpommern schon einen Räumungsbescheid zugeschickt. Den letzten für Anfang November. „Die Bescheide waren schlicht rechtswidrig“, sagt Peter Westenberg vom Bund für Umwelt und Naturschutz: „Da könnte die Stadt Rostock auch Herrn Diestel als Präsident des Fußballclubs Hansa anweisen, die Falschparker auf seinem Stadionparkplatz persönlich abzuschleppen.“ Der Pächter habe nach einer rechtlichen Prüfung Widerspruch gegen die Bescheide eingelegt. Max und Anna und die anderen hoffen nun, daß die Fans von Autowahn und Autobahn irgendwann einmal einsehen, daß das Zehn-Milliarden-Projekt nichts von dem bringen wird, was seine Planer versprochen haben.

Fünf Gutachten haben sich mit den Annahmen der Planer beschäftigt. Die Aussagen waren niederschmetternd – aber folgenlos. Vier kommen zu dem Ergebnis, die A20 werde dem Bundesland nicht nützen, womöglich sogar schaden. Eine Untersuchung hatte Greenpeace bezahlt, eine zweite Studie die DGB-eigene Hans- Böckler-Stiftung, die anderen beiden die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung. Der wichtigste Einwand gegen die „A20“ besagt, daß ein Land von der Größe Hessens, das gegenwärtig kaum mehr Einwohner hat als Hamburg, gar keine Autobahn braucht. Es würde reichen, die schon vorhandenen Bundesstraßen auszubauen. Das bisher einzige veröffentlichte Gutachten, das für die A20 ist, steckt so voller Fehler, daß es als Beweis für deren Notwendigkeit nicht mehr zu gebrauchen ist.

Fünf zu null für die Gegner des Projekts also, aber was ist schon ein Haufen Papier voller Pessimismus gegen die Verheißungen von blühenden Landschaften entlang der „baltischen Magistrale“? Rosemarie Wilcken, Bürgermeisterin der Stadt Wismar und stellvertretende Landesvorsitzende der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, gilt in Sachen Autobahn als der weibliche Schatten von Günther Krause, und das, obwohl der in der anderen Partei ist. Sie sitzt im schönsten Haus am Platz, dem Rathaus, und wundert sich, „daß ich überhaupt noch etwas zur A20 sagen soll. Eigentlich ist doch längst alles klar.“ Klar heißt, daß die Autobahn kommt, und wie die Menschen in ihrer Stadt darüber denken, zeigen die grünen Plakate, die an den Gebäuden rings um den Marktplatz kleben: „A20 JA!“

Wilcken hat alle SPD-Ministerpräsidenten persönlich angeschrieben, damit die dem Projekt zustimmen. „Schauen Sie, wir sind ein schönes Land und brauchen den Anschluß an die europäischen Metropolen. Es nützt ja nichts, wenn wir nicht erreichbar sind.“ Daß die Trasse mehrere Naturschutzgebiete nachhaltig beeinträchtigen wird, kann sie so nicht sehen: „Wir wollen ja nur die eine Autobahn, und gegen die kann ernsthaft niemand etwas sagen.“

Knapp 100 Kilometer westwärts, in Lübeck, da, wo die A20 beginnen wird, sieht man das allerdings ganz anders. Die Trasse, die irgendwann einmal Ost und West miteinander verbinden soll, schafft zur Zeit eher böses Blut zwischen den Brüdern und Schwestern.

Zwar sind auch in Lübeck außer den Grünen alle für das Projekt, aber der Widerstand in der Bevölkerung ist ungleich größer als im Osten. Das „Gesamtbündnis keine Ostseeautobahn“ hat in der Stadt seinen Sitz, und manchmal fahren die zwei Biologen Adelheid Winking und Jörg Clement von der Bürgerinitiative „Rettet die Wakenitz“ in einem kleinen Boot Interessierte durch das Biotop, das sich in den letzten Jahrzehnten ungestört vom Wohlstandsstreben der Menschen im Grenzstreifen zwischen West und Ost entwickeln konnte. Nun droht die Fauna und Flora der Wakenitz unter einer „Flachbrücke“ unwiderruflich Schaden zu nehmen, und das regt die beiden auf: „Natürlich habe ich Verständnis, daß sich die Mecklenburger an den Strohhalm A20 klammern, aber sie müssen erkennen, daß die Autobahn nicht einlösen kann, was die Befürworter versprechen. Im Gegenteil, sie wird vieles zerstören“, sagt sie, und er ergänzt: „Man darf nicht vergessen, daß eine riesige Propagandamaschine in Gang gesetzt wurde, die Leute wollen auf die Argumente der Ökologen nicht hören.“

Die Chancen, das Projekt doch noch zu kippen, stehen eher schlecht. Die größte Hoffnung der Gegner ist, daß dem Staat das Geld ausgeht. Max, Anna und die anderen werden sich im Hüttendorf an der alten F96 jedenfalls weiter den Arsch abfrieren: „Wir bleiben bis zum Schluß.“ Man möchte es ihnen nicht wünschen, denn bis der versprochene Aufschwung durch Mecklenburg-Vorpommern rollen soll, werden mindestens noch zehn Jahre vergehen. Und selbst das ist ohne Gewähr.