piwik no script img

Premier Juppé kommt immer mehr unter Druck

■ Zum zweiten Mal in nur fünf Tagen legten Streiks gestern Frankreich lahm

Paris (taz) – Zwei Fahrkarten hat die Angestellte der französischen Staatsbahn SNCF an dem Pariser Ostbahnhof gestern vormittag verkauft: Eine für Weihnachten und eine für Sylvester. „Die Leute sind zurückhaltend“, sagt sie, „niemand weiß, wie lange der Streik dauern wird.“ Vor ihrem Schalter, wo sich sonst lange Warteschlangen bilden, diskutieren streikende Eisenbahner mit Zuggästen, die nicht wissen, wie sie nach Hause kommen sollen.

Seit fünf Tagen steht Frankreichs Schienennetz praktisch still. Von sechs Zügen verkehrt allenfalls einer, und ein Ende des Ausstands ist nicht in Sicht. Den Hilfsplan der Regierung für die marode SNCF lehnten die Gewerkschaften der Eisenbahner gestern empört ab. Die CFDT nannte ihn schlicht „Betrug“. Laut Plan steuert der Staat im nächsten Jahr 37 Milliarden Francs zum Abbau der 230 Milliarden Francs (knapp 70 Milliarden Mark) Schulden der SNCF bei. Der Rest soll bis zum Ende des Jahrzehnt über einen Fünfjahresplan erwirtschaftet werden: Die Regierung will „unrentable“ Strecken stillegen und Tausende von Stellen streichen.

Die 170.000 Eisenbahner sind die Speerspitze im gegenwärtigen Konflikt – aber sie sind nicht allein. Gestern gesellten sich zahlreiche andere Streikende zu ihnen. Ihr Protest richtete sich gegen den rigorosen Sparplan, mit dem die Regierung die Sozialversicherung sanieren will. Darin ist die Einführung einer Sondersteuer von 0,5 Prozent, höhere Abzüge und Einsparungen bei der Gesundheitsversorgung vorgesehen.

Zum zweiten Mal binnen einer Woche war Frankreich damit gestern lahmgelegt. Bereits am vergangenen Freitag hatte die kommunistische Gewerkschaft CGT gegen den Sparplan zum Streik aufgerufen und zusammen mit den Beamtengewerkschaften, die ihrerseits gegen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit im öffentlichen Dienst streikten, landesweit demonstriert.

Auch in Frankreichs 90 Universitäten hält der Unmut an. Seit über einer Woche befinden sich die Studenten im Kampf um zusätzliche Finanzmittel. In Toulouse veranstalteten sie in der Nacht zu gestern eine Demonstration. In Pau hielten sie das Rektorat der Hochschule besetzt. Gespräche mit Regierungsunterhändlern brachten keinen Erfolg. Für morgen ist ein zweiter nationaler Aktionstag angekündigt.

Trotz der massiven Proteste ist die Regierung nicht zu Zugeständnissen bereit. Jacques Chirac hat erklärt, er habe sich nicht wählen lassen, um populär zu sein, und er gedenke, seine sieben Jahre als Präsident zur dringenden Sanierung der Wirtschaft zu nutzen. Premierminister Alain Juppé, der unter entschieden größerem Erfolgsdruck steht als der Präsident, will heute die Einzelheiten zur Umsetzung seines Sparplans für die Sozialversicherung im Kabinett vorlegen. Damit die Maßnahmen wie geplant zum 1. Januar wirksam werden können, ist Eile geboten. Dorothea Hahn

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen