Ernst und weh

Der Osten stirbt in Gestalt einer jungen, verlockenden Frau, und über allem wallt der mythische Atem der Geschichte: Theo Angelopoulos beklagt in seiner Balkan-Elegie „Der Blick des Odysseus“ den Verlust der Unschuld  ■ Von Christiane Peitz

Wenn der Nebel kommt, atmen alle auf. Nebel in Sarajevo bedeutet Waffenstillstand. Den Heckenschützen nimmt er die Sicht, den Bewohnern gibt er Bewegungsfreiheit, dem städtischen Leben verleiht er flüchtige Normalität. Man kann die Tochter am anderen Ende der Stadt besuchen und auf dem Weg dorthin dem Freiluft-Orchester lauschen, der Theatergruppe vor den Ruinen zusehen oder mit der Jugend am Flußufer tanzen. Nebel ist gut für die Kultur. Auf der Leinwand nur Schemen. Ivo Levy (Erland Josephson), der Hüter der letzten Filmschätze Sarajevos, geht mit seinem Gast, einem griechischen Filmemacher (Harvey Keitel) und mit seiner Familie spazieren. Die Kinder beschweren sich, man könne nichts sehen. Die Erwachsenen genießen den Freigang. Dann: ein Auto, Stimmen, Schüsse im Off. Das Bild: ein milchiges Nichts. Der Ton: eine Tragödie – Ivo Levy und die Seinen werden sinnlos ermordet. Nur der Filmemacher überlebt. Das Drama, dessen Zeuge er ist, gerinnt nicht zum Bild, denn auch die Kamera kann den Nebel nicht durchdringen.

Der Bosnienkrieg: ein Kampf der Gespenster, eine Art Überbelichtung, wie falsche Chemie. Ein Bild wird entwickelt, aber das Material will nichts preisgeben. Dieses sich verweigernde Bild ist das beste, das Theo Angelopoulos auf seiner dreistündigen Reise durch Geschichte und Gegenwart des Balkans fand. Aber der Film ist noch nicht zu Ende. Der Nebel lichtet sich, das Freiluft-Orchester liefert das passende Lamento, Harvey Keitel bricht über der Leiche von Ivos Tochter, seiner verlorenen Liebe, weinend zusammen. Er schluchzt dabei wie ein Laiendarsteller. Bei symbolischen Trauerakten fließen meist Krokodilstränen. Der alte Mann aus dem Westen beklagt den Untergang des Abendlandes, der Osten stirbt in Gestalt einer jungen, verlockenden Frau, und über allem wallt der mythische Atem der Geschichte.

Der Nebel veredelt wie Weihrauch, verleiht den Bildern vom Krieg eine poetische Aura und hebt sie aus der schnöden Realität in höhere Sphären. Kusturica hat sich auf die Höllenvision kapriziert, Angelopoulos auf die Elegie. Seine Kunst braucht die Unschärfe. Das macht sie nicht nur verschwommen, sondern obszön. Kinofiktionen über einen Krieg, der noch nicht zu Ende ist, sind selten in der Geschichte des Films. Nicht, daß sich solche Bilder verbieten. Wer sie produziert, sollte nur wissen, was er tut. Angelopoulos hat Sarajevo in Mostar und Vukovar so nachgestellt, wie man es aus den Nachrichten kennt. Menschen hasten mit Wasserkanistern über die Kreuzung, ein Unprofor- Panzer prescht durch die Straßen, dazu malerisch brennende Autowracks und Leichen vor zerbombten Häusern. Die belagerte Stadt als Mythos ihrer selbst. Harvey Keitel irrt durch die Trümmer wie ein Wesen vom anderen Stern: „Is this Sarajevo?“ fragt er die flüchtenden Bewohner. Wenn er in den letzten Jahren auch nur einmal Fernsehen gesehen hätte, wüßte er es. Eine mythische Gestalt – Keitel als moderner Odysseus – mitten in einem realen, schmutzigen Krieg – macht eine komische Figur. Aber Angelopoulos meint es nicht selbstironisch. Ihm ist ganz ernst und weh zumute. Denn Odysseus sucht den unschuldigen Blick.

Ein namenloser griechischer Filmemacher (eben Harvey Keitel) kehrt nach über 20 Jahren amerikanischem Exil in die Heimat zurück und forscht nach drei verschollenen Filmrollen der Gebrüder Manakis. Die Brüder eröffneten zu Beginn des Jahrhunderts im mazedonischen Monastir ein Filmstudio, besorgten sich in Europa eine Kamera und dokumentierten als vagabundierende Kinopioniere das Leben der Balkanvölker. Angelopoulos hat diese verloren geglaubten historischen Dokumente tatsächlich – nicht in Sarajevo, sondern in Belgrad – gefunden und seinem Film vorangestellt. Wir sehen Spinnerinnen bei der Arbeit, alte Frauen, deren Händen und Rädern sich in rhythmischen, trancehaften Bewegungen Fäden entwinden, als habe sich das Kino, als es zu laufen begann, zunächst sein eigenes Märchen erzählt. Auf der Suche nach diesen Bildern – ersten, reinen, unschuldigen Bildern, wie der Off-Kommentar unentwegt raunt – reist Odysseus/Keitel von Griechenland nach Albanien, Bulgarien und Rumänien über die Donau bis nach Belgrad und schließlich Sarajevo. Dort, bei Ivo Levy wird er fündig; seit Jahren arbeitet der Archivar an der chemischen Formel für die Entwicklung der Manakis-Rollen. Aber der Film bleibt leer, ein Flimmern und Flackern, das keine Konturen annimmt. Mit anderen Worten: Der Weg ist das Ziel, wie bei Homer. Eine Winter- und Zeitreise also mit langsamen Plansequenzen und elegischen travelling shots, bei denen sich ohne jeden Schnitt die Vergangenheit in die Gegenwart schiebt, unterbrochen von Grenzzwischenfällen: eine typische Angelopoulos-Odyssee.

Seit 25 Jahren, in mittlerweile zehn Filmen, vermessen seine Helden – Heimkehrer, Vertriebene, Wanderschaupieler – gemächlichen Schritts die griechische Heimat. Nun hat der Regisseur erstmals die nördliche Landesgrenze überschritten, aber der Balkan sieht überall gleich aus. Karge Provinzen, unwirtliche Städte, Schneefelder voller albanischer Flüchtlinge, Bahnhöfe, Häfen, Grenzflüsse. Eine kolossale Leninstatue gleitet auf einem Donaukahn liegend durch die Landschaft, bandagiert und eingerüstet: der Kommunismus auf dem Totenbett. Die Menschen am Flußufer bekreuzigen sich. Solch irritierende, stumme Sinnbilder wechseln mit geschwätzigem Pathos und mit der überstrapazierten Altherrenphantasie von der geheimnisvollen Frau (die Rumänin Maia Morgenstern in vier verschiedenen ethnischen Versionen), die sich dem Reisenden auf all seinen Stationen mit stummer Verzweiflung hingibt und zuletzt eben stirbt.

Hinzu kommt ein Geflecht von Zitaten aus Leben und Werk Angelopoulos'. Die religiösen Fanatiker zum Beispiel, die dem Kinopublikum bei der Heimkehr des Emigranten entgegentreten. Zwei stumme Menschenmengen, die einen mit Schirmen, die anderen mit Kerzen, getrennt von den Schutzschildern der Polizei: Emblem eines Bürgerkriegs, kurz vor dem Ausbruch. Ein ähnlich fanatischer Bischof hatte in der nordgriechischen Stadt Florina die Dreharbeiten zu Angelopoulos' letztem Film „Der schwebende Schritt des Storches“ mit fundamentalistischen Kamapagnen zu verhindern versucht.

Der Archivar in Sarajevo erinnert an den Gründer der Pariser Cinematheque Henri Langlois, den Angelopoulos aus seiner Studienzeit kannte. Die Schüsse im Off und die leeren Filmstreifen zitieren ähnliche Schüsse und Filmstreifen aus „Landschaft im Nebel“. Und der Journalistenfreund in Belgrad gedenkt der großen Partisanen und Filmklassiker. „Eisenstein? Haben wir den auch geliebt?“ „Wir liebten ihn, aber er uns nicht,“ antwortet Keitel. Das einzige Augenzwinkern in drei Stunden Schwermut. Jede Station von Odysseus wird zum Schauplatz für eine weitere Melancholie, für Abschiede, Nachrufe, Schwanengesänge. Sarajevo als Schlußtableau für den Untergang des Abendlandes paßt nur zu gut ins Bild. Der mythische Blick bricht sich nicht an der Kriegswirklichkeit. Er verleibt sie sich ein. Ob Angelopoulos, Wim Wenders oder Antonioni: Die Klage über den Verlust der Unschuld erklingt unisono, von Lissabon über Ferrara bis Sarajevo. Einsame Männer begegnen somnambulen Frauen und bleiben an verlassenen Gestaden oder in kaputten Kinosälen alleine zurück. Die Autorenfilmer gebärden sich als Epigonen ihrer selbst; zum 100. Geburtstag der jüngsten aller Künste zelebriert die Avantgarde von gestern die eigene Erschöpfung. Den Rest der Welt nimmt sie nur noch aus dem Augenwinkel wahr. Und niemand schreit, Papas Kino sei tot.

„Der Blick des Odysseus“ von Theo Angelopoulos. Mit Harvey Keitel, Erland Josephson, u.a. Frankreich/Griechenland/Italien 1995, 180 Min.

Interview mit Angelopoulos auf Seite 17