Das Weinen geht nicht mehr

Sonntags ist es auf der Aidsstation im Berliner Auguste-Viktoria-Krankenhaus besonders furchtbar. Aber manchmal tritt dort ein Chor auf – und bringt Frank zum Lächeln  ■ Von Thorsten Schmitz

Als Frank sich von seiner Mutter und seinem Bruder verabschiedete, bewegte er sich wie in Zeitlupe. Er fühlte starkes Stechen im Rücken, jede noch so kleine Regung vervielfachte den Schmerz. Frank überragte die beiden deutlich, er war der größte mit seinen 1,96 Metern. Langsam beugte er sich zum Kopf seiner Mutter und umarmte sie, so gut er eben konnte. Sie war so klein.

Mit einem zerfledderten Taschentuch rieb sich Franks Mutter die Augen trocken. Daß ihr Sohn einmal so aussehen würde – es war ihr alles zuviel. Ihr Blick sog sich fest am Aufzugsknopf. Linkisch suchte der Bruder nach einer möglichst unverkrampften Geste des Verabschiedens. Die drei standen sich schweigend gegenüber, wie eingefroren – und um sie herum, wo zwei Flure sich kreuzten, wurden Tische gedeckt. Kaffeekränzchen auf der Aidsstation.

Alle zwei Sonntage im Monat kredenzt das mobile „Café Viktoria“ im Auguste-Viktoria-Krankenhaus Donauwelle und Kokosstreuselkuchen. Auf drei Tischen stehen 33 Kaffeetassen und 33 Kuchenteller, Kunstblumensträuße und Haribo-Erdbeeren – zwei Stunden lang, von 14 bis 16 Uhr. Wer die Einsamkeit in sich selbst und in seinem Zimmer nicht aushält, schlurft zur Flurkreuzung auf Etage zwei und setzt sich an einen der Tische. Die Gäste des Cafés Viktoria kommen in der Gewißheit, daß sich niemand wundert über lila Flecken im Gesicht.

Franks Mutter war am frühen Morgen von der Lüneburger Heide nach Berlin-Schöneberg gefahren – um ihren Sohn zu sehen und um ihm einen Schlafanzug zu schenken. Noch am Telefon hatte Frank versprechen müssen, daß sie mit ihm im Café Viktoria Kaffee trinken wird. Aber der Anblick ihres Sohnes hatte sie dermaßen verstört, daß sie es nicht mehr aushielt. Frank hatte zehn Kilogramm Untergewicht.

An der Aufzugstür gab Frank seiner Mutter den hellblauen Schlafanzug wieder zurück; er gefiel ihm nicht. Sein Bruder steckte ihm heimlich Zigaretten in die Taschen des weißen Frotteebademantels, als dealten die beiden damit. Franks Mutter sollte das nicht mitbekommen, denn Frank hatte ihr versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören.

Die Aufzugstür schloß sich, und Frank wollte wieder auf sein Zimmer gehen und Walkman hören, trancige House-Musik. Seine traurige Mutter machte ihn jedesmal selbst traurig. Er blieb dann doch im zugigen Flur und setzte sich an einen der Tische. „Ich muß mich ablenken“, das war sein Wunsch. Jemand von der Berliner Aids-Hilfe brachte ihm ein Stück Obsttorte und eine Tasse Kaffee, ohne Milch. Franks Hände zitterten so stark, daß Krümel von der Kuchengabel fielen. Den Bund seiner karierten Schlafanzughose hatte er schon zweimal enger genäht.

Mit Blitzlich fotografierte Frank die Männer und die wenigen Frauen an den anderen Tischen. Er wollte seinen Aufenthalt dokumentieren, das sterbende Leben auf Station 30C.

Frank trug die blonden Haare kurz und einen goldenen Ring am linken Ohr. Er roch nach Eau de Toilette von Calvin Klein. Seine stechend blauen Augen lagen sehr tief, sie ließen seine lange Nase noch größer erscheinen. Unter den fünfzig Patienten galt Frank als der schönste – und als der anstrengendste. Nie konnte man es ihm recht machen, in seinen Augen waren alle gegen ihn. Wer mit Frank redete, den überschüttete er mit seinem Haß gegen die Ärzte und Pfleger auf Station 30C. In solchen Momenten war er nicht zu stoppen, bis er selbst innehalten mußte, weil sein Mund so trocken war. Er traute sich kaum, um einen Schluck Wasser zu bitten: „Ich schäme mich, daß ich so hilflos bin. Ich komme mir vor wie eine neunzigjährige Oma.“ Gerade erst war Frank 32 geworden.

Zu besänftigen war Frank durch Valium oder Morphium – das wollten ihm die Pfleger nur selten spritzen, weil sie wußten, daß Frank süchtig danach war. Zuletzt hatte er im Pharmagroßhandel gearbeitet. Wer ihn nachts in Techno-Discos und Schwulenbars traf, lernte ihn immer „gut drauf“ kennen, gesprächig und voller Energie. Mit geklauten Medikamenten putschte Frank sich eine heile Welt zurecht. Ohne Aids im eigenen Blut und ohne Depressionen.

Zu besänftigen an diesem Sonntag war Frank dann durch die „RosaCavaliere“: 14 Männer, die die Aidskranken zum Lachen bringen. Der Chor sang eine halbe Stunde, von „blühenden Wiesen in Malaga“ und vom „Festival der Liebe“. Sie waren bis in den hintersten Winkel der Flure zu hören, zufällig vorbeikommende Pfleger blieben stehen oder setzten sich zu den Patienten. Wie Morphium wirkten die „RosaCavaliere“ auf Frank, alle Verbissenheit fiel von ihm ab, er sagte: „Na, ist ja toll!“ Er lächelte sogar. Richtig lachen wollte er nie, weil dann seine Lunge schmerzte. Für ihn war es, „als ob das Leben zu mir kommt“. Frank rauchte drei Zigaretten hintereinander, die „RosaCavaliere“ machten ihn hellwach. Als die Vorstellung beendet war, klatschte er wie die anderen, nur viel langsamer. Er hatte keine Kraft in den Händen.

Frank blieb bis zuletzt sitzen im Flur, selbst als die Tische längst weggeräumt waren. Der Auftritt des Chors kam ihm vor wie ein Traum. Er saß da und rieb sich die dürren Oberschenkel, als hoffte er, daß der Chor nur mal eben eine Pause gemacht hätte. „Warum ist meine Mutter nicht noch ein bißchen geblieben?“ sagte er, ihr hätten die Schlager Spaß gemacht. Aber sie halte es auf der Station eben nicht aus, sprach Frank wie zu sich selbst, sie habe ja noch nicht einmal mit den Ärzten gesprochen. Weihnachten wollte Frank zu Hause in der Lüneburger Heide verbringen, seiner Familie mochte er nicht zumuten, am 24. Dezember in seinem Krankenzimmer zu sitzen. Vielleicht, dachte er außerdem, „ist es mein letztes Weihnachten“.

Ein bißchen Angst hatte Frank vor der Fahrt, mindestens genausoviel Angst wie vor dem Tod. Denn für ihn war das Krankenhaus wie ein Bunker, in dem er Schutz fand. Eine Art Garantie auf Lebensverlängerung. „Wenn es mir ganz schlechtgeht, können die mir hier immer helfen.“ Er klammerte sich an diese Vorstellung. „Ich bin doch noch viel zu jung, um zu sterben“, sagte er in einem Ton, als müsse er sich für diesen Wunsch rechtfertigen. Vor kurzem war er in eine Wohnung gezogen, direkt gegenüber dem Krankenhaus. Der Blick von seinem Wohnzimmer auf Station 30C „beruhigt mich“. Das war der innere Spagat, den Frank täglich absolvierte: Er haßte die Pfleger, und er wollte ihnen nah sein, weil er von ihnen abhing.

Er wollte etwas Warmes essen, „damit meine Hosen wieder passen“, und so schlurfte Frank in sein Zimmer. Er legte sich ins Bett und wartete darauf, daß die kochendheiße Hühnerbrühe abkühlte. Der Auftritt der „RosaCavaliere“ hatte ihm den „furchtbaren“ Sonntag verkürzt, was die wohl denken, wenn die uns sehen, fragte er sich. An Sonntagen fühlte er sich besonders ausgeschlossen vom Leben da draußen. Manchmal schlich er sich aus dem Krankenhaus, nach Hause zu seiner Katze. Die schnurrende Katze auf seinem Bauch sei „mindestens soviel wert wie eine Infusion“, hatte er gesagt und zum zweitenmal an diesem Tag gelächelt. Der warme Körper ersetzte ihm die Berührung, nach der er sich so sehnte.

Kalt war es in seinem Zimmer, das Fenster stand offen. Frank rauchte viel, die Pfleger bestraften ihn dafür, indem sie in seiner Abwesenheit das Fenster öffneten. Frank rauchte eine Schachtel „Prince Denmark“ am Tag – und er kiffte auch. Denn in Geo hatte er gelesen, daß in Amerika viele Aidskranke Hasch rauchten, in der Hoffnung, daß das die Lebenserwartung um dreißig Prozent verlängere. Der Nebel im Kopf wirkte auf Frank außerdem wie ein Schlafmittel – und er bewirkte, daß Frank lernte, mit seinen Aidsviren zu leben, nicht gegen sie. Er redete sogar mit ihnen, jeden Tag. Und immer dasselbe: „Ihr wohnt in mir, okay. Und wenn ihr mich sterben laßt“, warnte er sie, „dann habt ihr auch keinen Platz mehr, wo ihr wohnen könnt.“ Tatsächlich, sagte Frank und verbrannte sich die wunde Zunge an der Hühnerbrühe, „gebe ich mir noch drei Jahre“.

In diesen drei Jahren wollte er sich noch einmal richtig verlieben, das und nach Thailand reisen waren seine größten Wünsche. Viele Männer hatte er kennengelernt, vielleicht fünfzig, so genau wußte er das nicht mehr: „Irgendwann habe ich aufgehört zu zählen.“ Unter diesen fünfzig war Norbert, der Mann, bei dem er zum ersten und einzigen Mal eine Ahnung davon bekommen hatte, was Liebe sein könnte. Vier Jahre lebten die beiden zusammen. Wenn Frank von dieser Beziehung erzählte, dann so, als sei Norbert noch am Leben. Dabei war Norbert schon ein Jahr tot, gestorben an Aids.

Wo Frank sich angesteckt hatte, interessierte ihn nicht. Das, sagte er, „wollen immer nur die wissen, die nicht positiv sind“. Als ihm ein Bundeswehrarzt 1985 sagte, er sei positiv, trieb er sich eine Woche lang in Discos herum. „Ich wollte das Ergebnis wegtanzen“, erinnerte er sich an damals.

Er hatte kaum noch Freunde, fast alle waren schon gestorben. „Ich bin der einzige Überlebende“ – das sagte er, als appelliere er an sich selbst, nur ja durchzuhalten. Er wollte nicht schwach werden, „dafür hänge ich viel zu sehr am Leben“. Die Stärke mußte er sich jeden Tag wieder einreden. Weinen konnte er schon längst nicht mehr. „Ich versuche es manchmal, aber es geht nicht.“

Draußen war es längst dunkel geworden, Frank mochte nicht in der James-Dean-Biographie lesen und auch kein Fernsehen gucken. Zum Schlafen war er nicht müde genug, und auf Walkmanhören hatte er keine Lust. Er brauchte jetzt Menschen, Reden gab ihm die Sicherheit, am Leben zu sein. Er schlüpfte in seine Hausschuhe, zog den Bademantelgürtel fester und lief langsam den Flur entlang zum Aufenthaltsraum. Das Neonlicht machte die Schatten unter seinen Augen noch dunkler.

Drei Männer saßen auf einer Couch und in einem Sessel. Als Frank kam, machte einer den Fernseher aus. Sie rauchten und redeten. Kurz über die „RosaCavaliere“. Lange über den Tod. In diesem Moment, in diesem engen Aufenthaltsraum wurde der Tod zum festen Bestandteil des Lebens.

Ein älterer Mann in Turnschuhen, der sich im vierten Stock langweilte und die Aidskranken im zweiten täglich besuchte, erzählte, wie er vor kurzem in Ohnmacht gefallen war. „Es war auf dem Flughafen Charles de Gaulle, in Paris. Ich spürte plötzlich, wie ich mitten in der Ankunftshalle mein Bewußtsein verlor. Dann war ich weg. Das war der schönste Moment in meinem Leben“, sagte der Mann und lachte wie ein Bub dabei. „Man ist alle Sorgen los und wunderbar leicht.“ Die Geschichte gefiel Frank, „na, wenn Sterben so ist...“

Er zierte sich erst, „ich weiß, das klingt dumm“, sagte dann aber doch, woran er fest glaube: „Wenn ich tot bin, werde ich Norbert treffen. Im Himmel oder irgendwo sonst.“

Zwei Tage später, am Dienstag, war Frank verschwunden. Er hatte das Krankenhaus verlassen, seinen Walkman und das James-Dean-Buch dagelassen. Niemand wußte, wo er sein könnte.