■ Nebensachen aus Mexiko-Stadt
: Eine Nation und ihr Ex: ein Fall für die Couch

Als vor genau einem Jahr Carlos Salinas de Gortari seinem nichtsahnenden Nachfolger im Präsidentenamt Mexikos die vaterlandsfarbene Schärpe umhängte, will manch aufmerksamer Betrachter ein feines, gar ironisches Lächeln um seine Mundwinkel bemerkt haben. So, als ob der frischgebackene Expräsident bei sich gedacht haben könnte: „Nach mir die Sintflut.“

Wer hätte sich damals schon träumen lassen, wie rasend schnell er vom Wunder- zum Schmuddelkind der Nation werden sollte. Schon wenige Monate später fühlte sich Thronfolger Ernesto Zedillo, immerhin einer der Zöglinge aus dem Salinas-Gefolge, bemüßigt klarzustellen, er habe „keinerlei Kontakt mit diesem Herrn“. Salinas war, sozusagen über Nacht, zur Unperson geworden. Erst stürzte Ende 1994 die bis dahin künstlich aufgepäppelte Landeswährung ab, und dann wurde im Februar 1995 Lieblingsbruder Raúl Salinas wegen Mordverdacht zum prominentesten Insassen des hauptstädtischen Hochsicherheitstraktes.

Carlos setzte sich unterdessen wohlweislich in den hohen Norden ab. Heute sitzt übrigens nicht nur sein großer Bruder hinter Gittern. Auch dessen Gattin Paulina befindet sich seit dem 15. November, als sie mit gefälschten Papieren in Genf schlappe 84 Millionen Dollar abheben wollte, in den Fängen der Schweizer Justiz. Kurz darauf brach der Exilierte erstmals sein Schweigen. Er selbst habe von „all diesen Transaktionen“ nichts gewußt. Diese kühne These nehmen dem Geschaßten allerdings nicht einmal seine hartgesottensten Ex-Fans ab.

Mit jeder neuen Enthüllung über die Machenschaften des Salinas-Clans fällt ganz Mexiko wie aus allen Wolken, plötzlich werden allerorten spitze Entsetzensschreie ausgestoßen. Auf ein Mal sind die Zeitungen, die das Konterfei des máximo líder über Jahre nie zu karikieren gewagt haben, voll mit bösen Bildchen vom „Kahlkopf“, gelegentlich wird er als „Vaterlandsverräter“ beschimpft. Auch die Unternehmerelite, die dem privatisierungsfreudigen Staatschef nun wirklich zu tiefstem Dank verpflichtet sein sollte, beteuert bei jeder sich bietenden Gelegenheit, „keinerlei wirtschaftliche Verbindung mit der Salinas-Familie“ zu unterhalten. Und nicht zuletzt wollen Mexikos Intellektuelle, die jahrelang dem salinistischen Modernisierungsrausch verfallen waren, nichts mehr von ihrem langjährigen Flirt mit „Washington's Darling“ (Time) wissen.

Heute ist der 45jährige Nobody's Darling mehr. Eine Nation und ihr Ex: eine traumatische Beziehungsgeschichte, an der jeder Paartherapeut seine helle Freude hätte. Dabei will man natürlich genauestens wissen, wo sich der Ex so rumtreibt.

Ausgerechnet in Kuba sei er zuletzt gesichtet worden, hieß es vor wenigen Tagen. Abends in der Hotelbar habe Salinas dann zusammen mit Funktionären des kubanischen Politbüros „sichtlich gutgelaunt“ Liedchen auf den Che geträllert.

Andere behaupten, der Exilpräsident gehe in Montreal oder New York seinen „saftigen Geschäften“ nach, nur gelegentlich komme es zu kleinen Zwischenfällen: So sei er in einem mexikanischen Restaurant vor kurzem von einer Gruppe von Landsleuten ausgebuht worden.

Bei allem Verständnis für die – berechtigte – Forderung nach politischen Prozessen drängt sich eine ketzerische Frage auf: Ob sich Mexikos Volkszorn zur Abwechslung auch mal an amtierenden Staatschefs entzünden könnte? Anne Huffschmid