Campus Novel mit Weihwasser

Wie Max in Louis Begleys neuem Roman den schönen Toby an Aids sterben sieht  ■ Von Rolf Spinnler

Wenn man in den USA etwas loben will, dann genügen nur Superlative. Das ist bei Büchern nicht anders als bei Sportereignissen oder neuen Automodellen. Da schreibt also ein literarisch begabter Anwalt einen Roman: stilistisch gewandt und einige aktuelle Themen streifend. Und sofort spricht die New York Times von einem „Buch, das in seiner Thematik, Metaphorik und in seiner erzählerischen Eleganz an Henry James, Marcel Proust und Thomas Mann erinnert“.

„Amerika, du hast es besser...“, schrieb einst Goethe. Aber viele künstlerisch ambitionierte Amerikaner empfinden es offenbar gar nicht als Chance, einer von europäischen Altlasten befreiten Kultur anzugehören. Unbewußt rumort in ihnen ein Minderwertigkeitsgefühl. Literaten, deren Begabung gerade in der unterkühlten Eleganz ihrer Geschichten zum Vorschein kommt, im lakonisch- respektlosen Erzählton, entwickeln einen Ehrgeiz, der weiter reicht: So etwas wie der „Zauberberg“ soll es schon sein. Man konnte das an Irene Dische beobachten, der Amerikanerin in Berlin: erst ein fulminantes Debüt mit ihren Short stories in „Fromme Lügen“, dann der verkrampfte und mißglückte „große“ Roman.

Louis Begley wurde 1933 in Polen geboren, studierte in den USA Literatur und Jura und arbeitet seit 1959 als Anwalt. „Wie Max es sah“, sein zweiter Roman (nach „Lügen in Zeiten des Krieges“), ist zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als eine Campus Novel. Es gibt ja in den angelsächsischen Ländern etwas, das bei uns völlig fehlt: ein solides literarisches Mittelfeld, das die Lücke zwischen der Kitschproduktion und den großen einsamen Geniestreichen ausfüllt. Die akademische Bildung sorgt dort für eine rhetorische Kultur, deren Modell die Form des Essays ist und nicht der strenge wissenschaftliche Jargon; sie bringt einen Schreibstil hervor, der demokratisch und leserfreundlich ist und dennoch nicht ohne Eleganz. Die Campus Novel ist die amerikanische Version des europäischen Gesellschaftsromans: Zivilisationsliteratur im ganz unverächtlichen Sinne.

Max ist Juraprofessor in Harvard, sein Spezialgebiet Vertragsrecht. Dank einer Erbschaft kann er sich einen Lebensstil leisten, der über die etwas beengten Verhältnisse seiner Kollegen hinausreicht. So kommt es – obwohl er kein Partylöwe ist, eher ein Einzelgänger, bei dem sich „Freundschaftsbeziehungen nicht halten“ –, daß sein Bekanntenkreis nicht auf das akademische Milieu beschränkt bleibt. Ein erfolgreicher jüdischer Geschäftsmann; ein international begehrter Stararchitekt; ein pensionierter Diplomat und CIA-Agent mit Villa am Comer See; ja sogar ein Ehepaar aus dem englischen Hochadel, das aus Steuergründen auf den Bermudas residiert – sie erlauben dem Professor aus seiner „marginalen Existenzform“ heraus tatsächlich so etwas wie einen Proustschen Blick auf die amerikanische upper middle class der siebziger und achtziger Jahre. Freilich: Bei Begley bleibt es bei einer flüchtigen Skizze, wo Proust hundert Jahre zuvor das Panorama einer ganzen Gesellschaft entworfen hatte.

Aber damit nicht genug. Proust und Thomas Mann haben auch für die zentrale Personenkonstellation des Romans Pate gestanden. Max ist wie Prousts Erzähler Marcel und Thomas Manns Erzähler Serenus Zeitblom gerade wegen seiner marginalen Position der bevorzugte confident jener Romanfiguren, zwischen denen sich das eigentliche Drama der Leidenschaft abspielt. Er findet heraus, daß der Architekt, sein ehemaliger Kommilitone – ein Mann in den „besten Jahren“ –, einen jungen Geliebten hat: Toby, Anfang Zwanzig und schön wie ein „junger Gott“. Der junge Beau wird mit mythologischen Attributen geradezu überhäuft: „Eros in Person“, Narziß an der Quelle, Ganymed, Hermes. „Er besaß die Anmut und schwerelose Freundlichkeit eines jungen Prinzen.“ Das kennt man doch irgendwoher... ja, richtig: Tadzio am Strand von Venedig; Joseph in halbnackter Pose am nächtlichen Brunnen; auch Rudi Schwerdtfeger oder Felix Krull kommen einem da in den Sinn. Aber alles Schöne muß sterben, hinab in die Grube – so lautete dort die Botschaft. An Typhus, an der Cholera, an Tuberkulose, an Syphilis, an Hirnhautentzündung, am mörderischen Schuß aus einer Pistole – fehlt eigentlich nur noch Aids.

Der Architekt heißt zu allem Überfluß auch noch Charlie Swan: „und genau wie Odette ist Toby nämlich eine ganz miese Nutte, und der kleine Mistkerl ist nicht einmal mein Typ“. Max, der einfühlsam-distanzierte Beobachter, wird also zum Vertrauten und Chronisten für das schwule Liebespaar – wie der Erzähler Marcel für Charles Swan und Odette de Crécy oder den Baron de Charlus und Charlie Morel; wie Serenus Zeitblom für Adrian Leverkühn und Rudi Schwerdtfeger. Aber was heißt schon distanziert! Wie sich hinter der Maske von Marcel, der im Schatten junger Mädchenblüte sein Glück nicht findet (weil die Angebeteten vielleicht lesbisch sind?), der schwule Autor Marcel Proust verbirgt und hinter dem Familienvater Zeitblom der Knabenliebhaber Thomas Mann, können einem auch bei Max so einige Zweifel kommen. Charlie jedenfalls, der schwule Architekt, gefällt sich schon ab und zu darin, seinen früheren Kommilitonen in provozierend tuntiger Manier anzurempeln: „Ich meine, die Dinge, die man nicht in der Law School unterrichtet und die du auch nirgendwo in Rhode Island, wo deine Mammi dich behütet und erzogen hat, erfahren durftest. Alles, was du brauchst, ist ein Mentor wie ich. (...) Schließlich bist du in deinem Alter noch immer unverheiratet, ein Intellektueller und Teilzeit-Ästhet dazu. Alles typische Homo-Merkmale!“ Und es stimmt ja: Die Frauen, mit denen Max liiert ist, haben alle so leicht knabenhafte Züge; und eine von ihnen, Camilla, treibt es gar heimlich mit dem schönen Toby!

Eine Campus Novel also mit dem Ehrgeiz nach Höherem. Solange es Begley bei vorsichtigen literarischen Anspielungen beläßt und sich im übrigen eines kühlen, knappen, schnörkellosen Tons bedient, der eher an Hemingway und James Baldwin geschult ist als an der manierierten Umständlichkeit Prousts oder Thomas Manns – so lange hält der Roman sein Niveau. Problematischer ist schon die Enthüllungsdramaturgie, die da am Werk ist. Bei Proust und Thomas Mann hatte das ganze komplizierte Drumherumreden ja seinen Grund in der Unsagbarkeit der homosexuellen Begierden und Lüste. Begley weiß, daß die sprachlichen Tabus des Viktorianismus nicht mehr gelten – und möchte dennoch so etwas wie Diskretion walten lassen. Die „Einzelheiten“, sagt Charlie einmal, kannst „du bei Krafft- Ebing nachlesen“. Das führt zu Verkrampftheiten (das Wort „Aids“ fällt kein einziges Mal, obwohl jeder sieht, daß Toby genau daran stirbt) und halbherzigen, inkonsequenten Lösungen: Der Roman schwankt zwischen Geheimnistuerei und Geschwätzigkeit, zwischen der impassibilité des distanzierten Blicks von außen und inszenierten Selbstenthüllungen nach dem Rousseauschen Modell der Konfession.

Gegen Ende verstärkt sich dieser Bekenntnisdrang, dieses Streben nach höheren Weihen immer mehr. Ohne einen kräftigen Schuß Weihwasser glaubt Begley offenbar seine Geschichte zu keinem befriedigenden Ende bringen zu können. Während Max, der Hetero, endlich sicher im Hafen der Ehe angekommen scheint und seine Laura (warum nicht gleich Beatrice!) Mutterfreuden entgegensieht, läßt Charlie, der schwule Witwer, am Grab von Toby eine Passage aus dem „Dies irae“ des Verdi-Requiems singen: „Ich ächze wie ein Verbrecher.“ Richtig: In seinem kurzen Leben hatte Toby zur Genüge ächzen müssen – als er entdeckte, daß er Männer liebte; als andere seine Neigung erkannten (...); wann immer der Akt vollzogen wurde, sei es auf Charlies exquisitem Bett oder an das Urinal gelehnt in Männertoiletten in ganz bestimmten U-Bahn- oder Eisenbahn-Bahnhöfen; und jedesmal, wenn sich eine neue Facette der Krankheit zeigte. „Die Schuld treibt mir die Schamröte ins Gesicht.“

Nichts gegen Religion. Die kommt bei Proust und Thomas Mann ja auch vor – aber viel klüger in die Komposition des Ganzen integriert, viel dezenter abgesichert: als „Licht in der Nacht“, als „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“, als „Transzendenz der Verzweiflung“. Bei Begley aber war man nach 180 Seiten amerikanischem Gesellschaftsroman durch nichts auf dieses Finale alla maniera di Dostojewski vorbereitet: auf eine Art „Dr. Fausti Weheklag“, eine blasphemische Theologie der „heiligen Sünde“. „Hör mal, Junge, ich sehe mir die Decke der Sixtinischen Kapelle doch nicht an, um Paläontologie zu studieren; ich habe nicht mit dem Beten aufgehört, weil Gebete nicht erhört werden; Heterosexuelle hören ja auch nicht auf mit Vögeln, weil Kinder zum Leiden und Sterben geboren werden“ – solche Sätze sind peinlich. Aber vielleicht ist der Roman ja gerade darin sehr amerikanisch, wie diese harten Burschen, die plötzlich hemmungslos losheulen, dieses Umkippen von Coolness in melodramatisches Pathos und Sentimentalität.

Louis Begley: „Wie Max es sah“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger. Suhrkamp Verlag, 208 Seiten, geb., 36 DM