Wodka hilft nicht bei der Selbstumkreisung

■ Versprengte Schauspieler aus Rußland spielen Alexander Gribojedows Komödie „Verstand schafft Leiden“ im Konrad-Wolf-Saal. Star des Abends: Juri Ljubimow

Wie die Fassade einer Bahnhofshalle umspannt ein hölzerner Bogen die Bühne. Auf der Digitalanzeige erscheint statt der Abfahrtszeiten die Übersetzung der russischen Texte. Zwei Musiker greifen müde in Tasten und Saiten. Ein paar Tische und Stühle von bäuerlich bis Biedermeier schaffen eine Atmosphäre zwischen Wartesaal und Wohnzimmer. „Verstand schafft Leiden“ betitelte Alexander Gribojedow sein 1824 verfaßtes Stück – eine Komödie, denn Lust und Leid gehen im russischen Theater meist Hand in Hand. Leiden muß vor allem der Heimkehrer Tschatzki, der nach drei Jahren im Ausland seine Jugendliebe Sofia aufgeben muß und sein Moskau nicht wiedererkennt. Gribojedow läßt Tschatzki erbittert mit der Adels- und Beamtengesellschaft abrechnen, die ihn daraufhin für verrückt erklärt und verstößt.

In Andreas Christoph Schmidts Inszenierung gibt es keine Gesellschaft mehr, die er demolieren könnte, sie ist bereits auseinandergebrochen. Kein Feind zu attackieren, kein Tabu mehr zu brechen – Sätze wie „zum Dienen bin ich gern bereit, das Dienern kotzt mich an“ lassen nur noch ahnen, welche Sprengkraft sie einst besaßen. Der Regisseur zieht sich aus der Affäre, indem er das Rückkehrthema zum Selbstzweck macht. Bringt ein paar Schauspieler und Musiker zusammen, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in alle Welt verstreut haben, und läßt sie eine Session spielen.

Einen Star gibt's auch: Juri Ljubimow, greiser Chefregisseur des Moskauer Taganka-Theaters, eigens aus Israel eingeflogen, um die Rolle des Beamten Famusow zu übernehmen. Er dient als Zugpferd, das nur für wenige Minuten auf die Bühne trabt, ein bißchen Text abliest und wieder in den Kulissen verschwindet, aus denen er zum Schlußapplaus freundlich hervorlugt. Wer extra wegen ihm in den Konrad-Wolf-Saal pilgert – und das waren zur Premiere viele –, sei hiermit vor Enttäuschung gewarnt.

Heimat, so sinniert der Dramatiker Alexej Schipenko im Prolog, existiert nur in des Menschen kranker Phantasie. Was also tut ein zusammengewürfeltes Ensemble, das in Berlin eine Heimkehr nach Moskau fingiert? Es kreist um sich selbst, umspielt das Vakuum zwischen einer Theatervergangenheit, die bei bloßer Wiederholung keinen Skandal mehr provozieren könnte, und einer Theaterzukunft, von der niemand weiß, wo sie liegen könnte.

Die Moskauer Künstlerstipendiaten geben folglich nur Kostpröbchen ihres mal mehr, mal minder ausgeprägten Könnens. Die Komödie dient als Zitatfundus und wacklige Revue aus Text, Tanztheater und Pantomime. Man amüsiert sich und wirft dem Publikum ab und zu ein paar Bröckchen vor.

In Moskau ist es bitter kalt. Mit wunderbar tragikomischen Grimassen läßt Jewgeni Sitochin sich die Schneeflocken aufs Haupt rieseln. Seine Clownerien sind noch am sehenswertesten. Meisterschülerin Jekaterina Nikitina beschränkt sich auf Rollen ihrer Kulleraugen. „Süße siebzehn“, soll sie im Stück sein. Gregory Illady bringt tiefe Töne hervor: oohhmm. Igor Ketschajew, ganz der Russe, übt sich inzwischen in temperamentvoller Verzweiflung.

Nach einer guten Stunde ist der Spuk vorbei, alle heben ihr Wodkaglas, „ohne Essen und ohne Nikita: Trinken wir auf ihn!“ Prost Freunde. Wodka hilft zwar nicht, aber er wärmt die Seele. Bleibt mit freundlicher Genehmigung von Klaus Nothnagel nur das Fazit: Einfach nur Russe sein genügt heute nicht mehr. Anne Winter

Bis 8. Dezember, Konrad-Wolf- Saal, Luisenstraße 58–59, Mitte