Lichtspiele
: Wieder sehr geweint

■ Die Vorzüge der Enten, Katzen und Mäuse. 100 Jahre Genrekino – Der Zeichentrickfilm, also noch einmal Walt Disney

Um bei diesem Genre nicht gar zu nostalgisch zu werden (der 50jährige möchte 15 sein), habe ich mich in die schnöde Gegenwart und „Pocahontas“ begeben. War auch nicht so schlecht wie ich befürchtet hatte. Gute Animation, nicht dieser Billig-Zeichentrick, den wir von den TV-Cartoons kennen. Aber das kann man schließlich vom Kino und Walt Disney verlangen. Was freilich die viel besprochene Computergenerierung angeht, was durch die besser sein soll, können mein Auge und meine Seele nicht entdecken.

Im letzten Jahr habe ich noch einmal „Bambi“ (1942) im Kino gesehen, und das war wunderbar, und die Bilder waren technisch genausogut wie die von „Der König der Löwen“ (1994). Beide Geschichten sind übrigens ganz ähnlich: Bildungsromane, die Erziehung des Prinzen, auf daß er sich seines schweren Amtes würdig erweise. Aber beim Löwen-Film bin ich, trotz der grandiosen Eingangssequenz, insgesamt ähnlich kühl geblieben wie bei „Pocahontas“.

Nicht so bei „Bambi“: Wir alle haben wieder sehr geweint, wenn Bambis Mutter stirbt und der König des Waldes zu Bambi sagt: „Du mußt jetzt tapfer sein und mußt lernen, allein für dich zu sorgen. Komm, mein Sohn, ich will dich lehren, was du wissen mußt.“ Mit diesen Worten verschwindet der Alte langsam und majestätisch im dichten Gebüsch, woraufhin ihm der Junge folgt, traurig und gedankenvoll.

Ja, da fließen die Tränlein, denn traurige und gedankenvolle Bambis, die dermaleinst König des Waldes werden wollen, sind wir bekanntlich alle. Aber wir haben auch viel gelacht: über Klopfer, den lustigen Hasen; das possierliche Stinktier; über das pfiffige Opossum; wenn die süße Feline Bambi den ersten Kuß gibt, igitt (und wie schön); oder wenn Bambi auf dem Eis ausrutscht und ulkig über den See schlittert.

Die schönsten, die lustigsten Szenen in „Pocahontas“ sind die zwischen dem Waschbären, dem Kolibri und dem fiesen Mops, im Löwen-Film die zwischen Warzenschwein und dem Erdhörnchen. Ansonsten gibt es nicht viel zu lachen, und das ist schlecht. Denn Zeichentrickfilme, das befindet sogar der strenge und moraline Jerzy Toeplitz in seiner „Geschichte des Films“, haben „das Ziel, Komik zu erzeugen“, weshalb die kritische Kritik Walt Disneys Langfilm-Cartoons immer bemäkelt hat. Beispielsweise Siegfried Kracauer, indem er anläßlich von „Dumbo“ (1941) darauf hinwies, daß ein abendfüllender Spielfilm einer Fabel bedarf, Cartoon wie Groteske, aber „nicht die Verfilmung einer Handlung im üblichen Sinne, sondern die Herausarbeitung ausgezeichneter Momente bezwecken“: also von Pointen und Gags.

Nun liebe ich wie jedes Kind „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ (1937) oder „Peter Pan“ (1953) oder „Pongo und Perdita“ (1961), aber Kracauer hat recht. Wenn ich zurückdenke an mein Kino, an die Kindervorstellung, dann waren es die Kurzfilme von Micky Maus und Donald Duck bis zu Tom & Jerry, die das größte Gelächter, das ungehemmteste Vergnügen hervorriefen. Wie ich schon vor 14 Tagen über Slapstick sagte: Handlung ist problematisch, wo's ums Lachen geht.

Die Faustregel also lautet: Kurze Zeichentrickfilme sind besser als lange; und lange, die eher dramatisch als komisch sind wie „Der König der Löwen“ und „Pocahontas“, sind nicht so gut wie „Dumbo“ oder „Das Dschungelbuch“.

Ein weiteres Problem von „Pocahontas“: Die Hauptfiguren sind Menschen. Die schönsten Cartoons haben Tiere als Helden: Elefanten, Hunde, Katzen; und natürlich Mäuse und Enten. Und was ist mit „Schneewittchen“, „Cinderella“, „Peter Pan“? Da kommen doch auch Menschen vor! Aber die Menschen dominieren nicht den Film, und die Zwerge und die Königin-Hexe sind naturgemäß viel interessanter als Schneewittchen und der doofe Prinz. Es handelt sich um Märchen, und Märchen sind davor gefeit, bräsig in die Realismusfalle zu tappen. Hexen, Feen, Zwerge sind Wesen, die wir in der Regel nicht sehen können, keine Menschen im strengen Sinne und daher also durchaus cartoontauglich – wenn auch nicht in dem Maße wie singende Glockenblumen, philosophierende Tausendfüßler und tanzende Skelette.

Was ja auch eigentlich auf der Hand liegt: Der Zeichentrickfilm kann machen, was er will und uns in eine Welt entführen, deren Grenzen nur von der Phantasie gezogen werden. Und wäre es doch geradezu kontraproduktiv (bescheuert), wenn er sich seiner virtuellen Medialität beziehungsweise medialen Virtuosität (N. Bolz) enthöbe und statt dessen darböte, was „ebensogut photographierbar“ wäre, um „eine Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die zu ihrer Darstellung den Zeichentrickfilm gar nicht benötigt“, so wieder der schlaue Kracauer. Und deshalb sind meine Lieblinge unter den Langfilmen auch „Fantasia“ (1940) und „Alice im Wunderland“ (1951). Wer nicht in Verzückung gerät, wenn niedliche Nilpferddamen in rosa Röckchen zur Musik von Mussorgski einen bezaubernden Reigen tanzen, oder wenn ein Märzhase, eine Schlafmaus und ein verrückter Hutmacher eine Teeparty feiern, auf der herumgesudelt wird, wie wir in unserer Scheißrealität auf unseren Partys nie herumsudeln durften, und außerdem feiert man dort – statt des einen einzigen Geburtstages bei uns – 364 Tage Nichtgeburtstag! – wer darob nicht in Verzückung gerät, der hebe sich hinweg und gehe schnurstracks in den nächsten Autorenfilm („JLG/JLG“).

PS: Seine „bekannte Schwäche und Sentimentalität“ (Enno Patalas' „Filmkritik“ 1957) hat man Walt Disney und seinen Langfilmen von Anfang an vorgeworfen. Zu recht, aber die Kritik hat dabei etwas einfallslos aus der Perspektive der Erwachsenen geurteilt und übersehen, daß Kinder, das genuine Publikum dieser Filme, zur Sentimentalität ein anderes, ein lockeres Verhältnis haben. Sie haben keine Angst vor Kitsch und fetten Gefühlen, schrecken nicht geradezu reflexhaft davor zurück – was ja schon der Erfolg dieser Filme seit fast 60 Jahren und auf der ganzen Welt belegt. Selbst aus einem so mißratenen Film wie „Pocahontas“ können Kinder noch etwas mit nach Hause nehmen, wie die Fünfjährige, die mit niedlicher Piepsstimme am Ende konstatierte (wahre Geschichte, ich schwöre es): „Schöner Film, aber 'n bißchen traurig. Und das Popcorn nehm' ich mit nach Hause!“ Kurt Scheel