Die Maus in der Lebendfalle

Passanten beschimpfen ihn, seit Jahren durfte er nicht mehr zum Friseur, selbst seinen Geburtstag muß er teilen: Joachim Hermann Luger ist Hansemann Beimer – auf immer und ewig  ■ Von Klaudia Brunst

„Kommst du nacher noch mal vorbei, Achim?“ ruft ihm die Maskenbildnerin im Vorbeigehen zu, „dein Nacken gefällt mir gar nicht, da muß ich unbedingt noch mal rüber.“ Seit zehn Jahren hat sich Joachim Hermann Luger nicht mehr selbst um einen Friseurtermin kümmern müssen. Penibel achten die Maskenbildnerinnen der „Lindenstraße“ darauf, daß ihr Hansemann Beimer immer ordentlich frisiert über den Bildschirm flimmert. „Eine der vielen kleinen Annehmlichkeiten, die wir Serienschauspieler haben“, kommentiert Luger meinen erstaunten Blick.

Auch daß der Metzger um die Ecke schon mal ein Stück Fleischwurst extra einpackt und Streifenbeamte bei einer Verkehrskontrolle gelegentlich eine unterschriebene Autogrammkarte als Ausweis akzeptieren – das alles gehöre zweifellos zu den angenehmen Seiten seines Berufs. Aber der Metzger meint natürlich nicht ihn, sondern Hans Beimer aus der Lindenstraße 3. Zu seinem Job, setzt Luger achselzuckend nach, gehört es eben auch, „daß ich hier gewissermaßen mein Gesicht an der Pforte abgebe“.

Anders als in anderen, weniger aufs Realistische angelegten Serien sind die Darsteller der „Lindenstraße“ darauf angewiesen, in großem Maße auch sich selbst zu spielen. Wenn Hansemann sich morgens von seiner Anna verabschiedet, dann muß sich Joachim Luger überlegen, wie man das wohl so realitätsnah wie möglich spielt. Also denkt er daran, wie er sich am Morgen in Bochum von seiner eigenen Frau verabschiedet hat. Die Grenzen zwischen Hans und Joachim, die sich laut Drehbuch sogar das Geburtsdatum teilen, verschwimmen. Selbst etliche persönliche Marotten habe er seinem Zwillingsbruder im Laufe der Zeit vererbt. „Zum Beispiel diese Geste, daß ich manchmal die Brille abnehme und mich an der Nasenwurzel kratze – das macht der Hans eben auch.“ Und dann setzt er die Brille ab, kratzt sich an der Nasenwurzel, und plötzlich sitze ich tatsächlich nicht mehr dem Schauspieler Luger, sondern dem Sozialarbeiter Hansemann Beimer gegenüber.

„Ich verstehe Ihre Verwirrung“, beruhigt er mich, „ich habe diesen Déjà-vu-Effekt selbst schon mal gehabt.“ Als die ARD anfing, die alten „Lindenstraßen“-Folgen auf den Dritten Programmen zu wiederholen, sei er einmal zufällig in einem HiFi-Geschäft gewesen. „Und da lief auf einem dieser Fernseher gerade eine ganz alte Folge. Und ich sah mich da und dachte: ,Um Gottes willen, das bist ja du! Das ist ja hundert Jahre her!‘ Und dann geh ich um die Ecke rum, und da läuft auch noch eine aktuelle Folge. Völlig verrückt!“ Da habe er dann zwischen diesen zehn Jahren gestanden und gedacht: „Jetzt mußt du aber langsam mal gucken, wo du eigentlich selber bist!“

Joachim Luger hat sich seinerzeit nicht leicht getan mit der Entscheidung, bei der „Lindenstraße“ einzusteigen. Noch ein paar Jahre früher wäre so ein Engagement wohl geradezu undenkbar gewesen. Da war er am Bochumer Schauspielhaus engagiert und hatte auch angemessen große Rollen. Bis Claus Peymann kam. Da kriegte er plötzlich nur noch das Ende von der Wurst. So machte Luger aus der Not eine Tugend, ließ das Engagement auslaufen und probierte sich auf dem freien Markt aus. Mit kleinen Gastrollen an Provinztheatern zunächst – Castrop-Rauxel, Landesbühne Neuss, dann kamen Essen und die ersten Aufträge beim Fernsehen – er war ganz gut im Geschäft.

Eines Tages legte ihm seine Agentin einen Casting-Termin beim WDR vor. Hans Geißendörfer suche einen Familienvater für eine neue Serie. Laufzeit erst mal ein Jahr. „Ich bin dann da hingegangen, und zu meiner Überraschung wollte Geißendörfer mich haben.“ Jetzt mußte alles sehr schnell gehen. Die Kollegen redeten ihm gut zu, zählten ihm die Vorteile auf: festes Auskommen, größere Bekanntheit, berühmter Regisseur. Die vielen kleinen Annehmlichkeiten eben. „Ohne deren Zureden hätte ich es vielleicht nicht gemacht“, erinnert er sich. „Aber dann dachte ich wieder: ,Was ist schon ein Jahr?‘“

Niemand konnte ahnen, daß aus diesen zwölf Monaten einmal zehn Jahre werden würden. Die öffentliche Kritik war anfangs bekanntlich niederschmetternd. Und Luger immer mittendrin. An der Seite von Marie-Luise Marjan, der Mutter Beimer der Serie, war auch er Zielscheibe etlicher Anfeindungen. Da erwachte in ihm so etwas wie Trotz: „Jetzt gibt es nur zwei Möglichkeiten“, habe er damals gedacht, „entweder mit aller Kraft voraus, und das Schiff schwimmt. Oder du gehst mit dem Kahn unter.“ Fahnenflucht? Unmöglich. Zu prominent schaukelte die MS „Lindenstraße“ auf den unruhigen Wellen der öffentlichen Meinung.

Und dann haben sich alle kräftig ins Zeug gelegt, bis das Schiff schwamm. „Und wenn das Wasser reinschwappte, dann haben wir es wieder rausgeschöpft.“ Eine große Teamleistung sei das gewesen. Aber als die See sich endlich beruhigt hatte, war plötzlich kein Land mehr in Sicht.

Da wurde dem treuen Matrosen Luger klar, daß dieser Hans bereits eine so enge Verbindung mit ihm eingegangen war, daß er ihn so ohne weiteres nicht mehr loswerden würde. Jetzt gab es ihn plötzlich zweimal. In dieser Zeit fing das mit den Verwechslungen auf offener Straße an.

Als sich Hansemann Beimer mit seiner Taube überworfen hatte, Heim und Herd verließ und in die Arme der jüngeren Anna flüchtete, da konnte es schon mal passieren, daß Joachim Luger mit seiner echten Frau samstags in Bochum auf den Markt ging und die Leute ihn ansprachen: „Na, Herr Beimer, ham'se schon wieder 'ne Neue? Wo ist denn Ihre Taube?“ Und wenn er dann stehen blieb und ihnen erklärte: „Meine Taube ist schon lange nicht mehr meine Taube. Die wohnt in Köln und heißt Marie-Luise Marjan, und deswegen ist sie auch nicht hier. Und außerdem bin ich jetzt mit Anna zusammen, und die heißt Irene Fischer. Und hier neben mir ist meine Frau im wirklichen Leben, und die heißt Angelika“, dann schauten ihn die Leute doch wieder nur strafend an und fragten: „Und wann gehen Sie endlich zurück zu Ihrer Taube?“

Auf eine Art sind diese Übergriffe auf sein Privatleben natürlich auch Komplimente. Es ist eben sein Beruf, den Hans Beimer zu spielen, und offenbar macht er das so gut, daß die Leute nun meinen, diesen Menschen wirklich vor sich zu haben. Anfangs habe er schon ein wenig darunter gelitten, daß die Öffentlichkeit in ihm nicht den präzisen Schauspieler, sondern nur den ewig vom Pech verfolgten Hans sah. „Die Leute glauben immer, das macht sich alles von alleine“, zuckt er resigniert die Achseln. „Weil es eben so normal aussehen soll.“

Die „Lindenstraße“ sei eben Fluch und Segen zugleich. „Es ist wie mit der Maus in der Lebendfalle, wo unten das dicke Stück Käse steckt. Eines Tages ist es vielleicht aufgegessen, und wir werden uns umgucken und sagen: Oh je, jetzt sind wir gefangen in dieser Serienwelt und haben keinen Käse mehr.“

Aber noch ist das Ende nicht abzusehen, noch ernährt die Serie ihre Darsteller recht komfortabel, und noch muß sich Joachim Luger kein Leben nach der „Lindenstraße“ vorstellen. „Ich habe ja schon ein halbes Schauspielerleben hinter mir“, sinniert er auf dem Weg zum Haareschneiden. „Ich werde diese Rolle sowieso mein Lebtag nicht mehr los. Selbst wenn hier mal Schluß sein sollte. Es wird ja immer wieder wiederholt.“