"Nichts ist langweiliger als Glück"

■ Warum wird Hans vom Pech verfolgt? Wieso saß Olli Klatt schon zweimal im Knast? Weil Martina Borger das so will

Ihr Schreibtisch steht mitten im Grünen, in einem kleinen Dorf bei Freiburg. Die Lebenswirklichkeit von Martina Borger hat mit der Münchner „Lindenstraße“ nicht viel zu tun. Außer daß die 38jährige seit neun Jahren gemeinsam mit Koautorin Maria Elisabeth Straub und Serienvater Hans W. Geißendörfer die Geschichten der „Lindenstraßen“-Bewohner erfindet. Mit Martina Borger sprach Klaudia Brunst.

taz: Wenn Sie selbst ein Leben in der „Lindenstraße“ führen müßten, welches würden Sie sich aussuchen?

Gar keins!

Warum?

Weil die mir alle sehr fremd sind. Wenn ich die Frauen meiner Altersgruppe anschaue – da gibt es ja eigentlich nur Anna und Gaby. Aber die sind absolut weit weg von mir. Das sind fremde Leben für mich.

Aber wenn die „Lindenstraße“ eine realistische Serie sein soll, dann müßte es doch auch Rollen für Sie und für mich geben! Fehlen der „Lindenstraße“ ganze Bevölkerungsschichten?

Wir haben viel zuviel Mittelstand. Schon von den Berufen her. Wir haben noch nie einen richtigen Arbeiter in der Serie gehabt. Von Gaby haben wir immer behauptet, daß sie früher in der Fabrik gearbeitet hat ...

... und sie dann, kaum in der Lindenstraße eingezogen, in die Bäckerei gesteckt!

Ja, das mit der Fabrik war immer nur eine Behauptung. Gesehen hat man das nie.

Liegt das am Milieu dieser Straße, oder haben Sie selbst sowenig Kontakt zu Arbeitern?

Hans Geißendörfer sagt immer, das könne man in Deutschland nicht besetzen. Er meint damit, daß es kaum geeignete Darsteller gibt, die Proletarier wirklich gut spielen können. Aber natürlich stimmt es auch, daß wir uns in diesem Milieu einfach hundsmiserabel schlecht auskennen. Trotzdem müssen wir gelegentlich auch zeigen, und wenn nur verbal, daß es auch ein Leben außerhalb der „Lindenstraße“ gibt.

Hans Beimer ist ja einer der wenigen, die überhaupt die Lindenstraße verlassen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Die anderen arbeiten ja sogar in dieser Straße.

Weil wir sie eben auch bei der Arbeit sehen wollen. Wenn Hans morgens in sein Büro geht, dann können wir ihn den ganzen Tag nicht sehen. Diese Leute, die morgens aus dem Haus gehen und erst spätabends zurückkommen – was willst du über die den ganzen Tag erzählen?

Dichten Sie Hans Beimer deshalb so viele berufliche Konflikte an? Veruntreuung von Betriebskapital, sexuelle Nötigung am Arbeitsplatz, Langzeitarbeitslosigkeit und so weiter ...

Mit Sicherheit. Wir müssen uns eben laufend Geschichten in seinem Job ausdenken, damit wir überhaupt mit ihm spielen können.

Wie kommt es eigentlich, daß Else Kling noch kein einziger echter Schicksalsschlag widerfahren ist – wenn man mal von Olafs Heirat mit Claudia Ranzow absieht.

Das kommt schon noch! Keine Sorge. Aber Else ist schon ein Sonderfall. Sie ist so etwas wie „Volkes Stimme“, in jeder Folge darf sie irgend etwas ablassen. So gesehen hat sie zwar immer Geschichten, aber selten große. Und wenn, waren es tatsächlich bisher immer Komödien.

Sie verfolgen in jeder Folge einen Buffostrang und eine tragische Geschichte.

Wir versuchen das zumindest durchzuhalten.

Einigen Figuren spielen Sie aber allzuoft tragisch mit. Anna und Hans kommen aus den Dramen ja gar nicht mehr raus.

Ach wissen Sie, es gibt doch nichts Langweiligeres als Glück.

Wie soll ich das verstehen?

Glück zu erzählen ist grauenhaft schwer. Sie können natürlich mal eine Folge lang erzählen, wie jemand ganz, ganz glücklich ist. Aber erzählen Sie das mal über 26 Folgen hinweg. Da schlafen Ihnen die Füße ein. Aber so eine Häufung liegt auch an den Charakteren. Die einen haben eben mehr, andere weniger Glück.

Führen Ihre Figuren also mittlerweile ein Eigenleben?

Natürlich. Manche Figuren entwickeln eine Eigendynamik, in die man dann nur noch schwer eingreifen kann.

Gibt es eine Figur, deren Entwicklung Sie rückblickend selbst erstaunt?

Da muß ich nachdenken. Zum Beispiel Klausis Schulfreund Olli Klatt. Das war jahrelang nur eine Nebenfigur im Off. Irgendwann haben wir ihn dann in die Serie geholt, damit man den auch mal sieht. Da war dann natürlich alles offen.

Allerdings! Olli hat mittlerweile schon zweimal im Knast gesessen. Überhaupt waren schon sechs Ihrer Figuren im Gefängnis. Haben da die Schauspieler Urlaub von der Serie beantragt?

Waren das schon sechs?

Ja, Olli Klatt, Frank Dressler ...

Dressler? Das ist aber schon lange her. Das war vor meiner Zeit.

Dann Dr. Kirch, Robert Engel, Zorro ...

Aber das mußte sein!

Und Friedhelm Ziegler ...

Tatsächlich, der auch?

Ja, und dann hat er sich auch noch umgebracht ...

Stimmt. Das war eine schöne Geschichte. Die haben wir konsequent zu Ende gebracht.

Gibt es auch das Gegenteil? Handlungsstränge, die irgendwann ins Nichts führen?

Doch, schon. Oft sind es sogar gerade die Geschichten, die wir besonders gern haben. Manchmal gleitet das dann unversehens in Sentimentalität ab. Wir waren zum Beispiel mit der Umsetzung der Polengeschichte selbst unzufrieden. Als wir das sahen, haben wir festgestellt, daß wir unfreiwillig in eine schreckliche Heimatseligkeit abgeglitten waren. Wir wußten von diesen Leuten einfach zuwenig. Und plötzlich hatten wir nur Abziehbilder produziert.

Wann merken Sie, daß etwas schiefgegangen ist? Beim Sichten der fertigen Folgen?

Ich merke es eigentlich erst, wenn ich die Reaktion der Zuschauer beobachte.

Aber wenn die Folge gesendet wird, ist Ihr Job schon ein Jahr erledigt.

Ja, da kann man nicht mehr viel machen.

Gibt es auch Geschichten, die Ihnen sehr am Herzen liegen, die Sie aber partout nicht in die Serie reinkriegen?

Ja, vor allem politische. Zum Beispiel das Thema Atomkraft. Da können Sie die Leute ja nur andauernd drüber reden lassen. Wie soll man über Atomkraft eine Geschichte erzählen?

Sie müßten sich ein zweites Tschernobyl ausdenken.

Genau. Aber den Super-GAU darf man nicht spielen. Oder man müßte Klaus nach Brockdorf schicken und das Ding stillegen lassen. Kann man aber auch nicht. Das ist alles jenseits unserer dramaturgischen Möglichkeiten. Dabei braucht man für die Geschichten mehr als trockene, theoretische Dialoge.

Beim Thema Tierschutz haben Sie Klausi immerhin in einen Schlachthof geschickt.

Dieser Filmausschnitt war mir noch viel zu kurz! Aber vielleicht war sogar das für viele Zuschauer schon viel zu brutal.

Jetzt möchte ich noch mal wissen, wie gut Sie sich eigentlich in der „Lindenstraße“ auskennen. Also, drei Fragen. Erstens: Wie oft hat Else Kling in den zehn Jahren im Lotto gewonnen?

Einmal?

Falsch, zweimal.

Tatsächlich?

In welchem Stockwerk wohnen die Sperlings?

Da kenn' ich mich aus! Dritter Stock links.

Richtig. Und wann hat Mutter Beimer Geburtstag?

Im August.

Nein. Im März.

Sind Sie da sicher?

Absolut. Am 24. März 1940. So steht es im „Amtlichen Lindenstraßenbuch“.

Wissen Sie, woran das liegt? Wir haben das Datum zwischenzeitlich geändert.

Sie ändern so mir nichts, dir nichts ein Geburtsdatum?!

Das Datum hatte der Dramaturg schon vor Drehbeginn festgelegt. Für August. Und dann wollten wir eine Geburtstagsfeier zeigen, und das paßte zeitlich nicht. Und da haben wir dann einfach beschlossen, daß sie eben im März Geburtstag hat. März sagten Sie doch, oder?

Ja, März.

Na, das wird dann schon stimmen.

Sie schummeln also. Annas Schwangerschaft hat ja auch zwei Monate zu lange gedauert. Und in Onkel Franz' „Sperlingsruh“ fehlen übrigens die Dachschrägen.

Aber im vierten Stock gibt es doch Wohnungen. Das weiß ich genau.

Ja, aber keine Dachschrägen.

Soll ich Ihnen was sagen? Das ist mir noch nie aufgefallen.