: Die Massenstreiks in Frankreich richten sich mehr und mehr gegen Europa. Die rigorose Sparpolitik Juppes wird als Opfer für die knallharten Stabilitätskriterien der Währungsunion verstanden. Die Angst, daß in Paris das geplante Eurogeld kap
Die Massenstreiks in Frankreich richten sich mehr und mehr gegen Europa. Die rigorose Sparpolitik Juppés wird als Opfer für die knallharten Stabilitätskriterien der Währungsunion verstanden. Die Angst, daß in Paris das geplante Eurogeld kaputtgestreikt wird, eint Kohl und Chirac, die sich gestern trafen. Auch in den anderen EU-Staaten wachsen die Sorgen.
Notopfer Europa
Frankreich in Aufruhr, und der französische Präsident ist ins Ausland entschwunden. Im beschaulichen Baden-Baden suchte er Rat bei seinem alten Kampfgefährten, dem in Deutschland stationierten General Jacques Massu. Moralisch gestärkt, kehrte er nach Paris zurück, demonstrierte Stärke, ließ Truppen in die Nähe der Hauptstadt verlegen, organisierte bürgerliche Gegendemonstrationen und löste die Nationalversammlung auf. Wenig später war der Spuk, wie General De Gaulle die 68er Revolution nannte, zu Ende.
Knapp drei Jahrzehnte später ist Frankreich wieder in Aufruhr. Und wieder reist der Staatspräsident nach Baden-Baden. Diesmal heißt er nicht De Gaulle, sondern Jacques Chirac. Und diesmal trifft er keinen Militär, sondern den deutschen Bundeskanzler zum lange geplanten deutsch-französischen Gipfel. Chirac sucht keinen militärischen Rat, er braucht Unterstützung und Solidarität.
Nichts macht besser deutlich, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Die französischen Streiks des Jahres 1995 sind keine rein innenpolitische Angelegenheit mehr, sie betreffen auch Deutschland. Denn vom Ausgang der Streiks und der großen innenpolitischen Krise Frankreichs hängt es ab, ob die europäische Währungsunion bis 1999 überhaupt noch eine Chance hat.
Wenn die Regierung in Paris einknickt und ihre Sparpläne aufgibt, wird Frankreich nicht dabei sein. Ohne Frankreich, das hat Kohl immer wieder betont, hat die Währungsunion aber keinen Sinn. Daß Ratschläge in dieser Situation nichts bringen, weiß auch Kohl. Als vor wenigen Tagen ein Frankfurter Bundesbanker die Franzosen platt aufforderte, ihren Streit zu beenden, um die Währungsunion nicht zu gefährden, reagierte Kohl wütend. Auch ohne schlaue Anweisungen aus Deutschland sind viele Franzosen überzeugt, daß am drohenden Verlust ihrer Privilegien die Europäische Union, und vor allem der wirtschaftliche Druck aus Deutschland schuld sind.
Was Kohl dem französischen Präsidenten in Baden-Baden zusichern kann, ist genau das, was er ihm und seinem Vorgänger schon immer zugesichert hat: Solidarität und das Bemühen, ihm in allen außenpolitischen Fragen den Rücken freizuhalten. Keine Kritik an den Atomtests, heißt das, und demonstratives Verständnis für die oft seltsamen Attacken Frankreichs gegen andere EU-Partner, mit denen Chirac zeigen will, daß Frankreich seine eigenen Interessen wahren will.
Schon vor Monaten warnte eine britische Zeitung, daß die harten Aufnahmebedingungen für die Währungsunion zu Unruhen führen werden. Der Zwang, die Staatshaushalte zu sanieren, werde zu sozialen Einschnitten und Entlassungen in staatlich subventionierten Betrieben führen und die Arbeitslosenzahlen hochtreiben.
Die Streiks in Frankreich sind nur der Anfang. Die belgischen Gewerkschaften legen seit Monaten immer wieder Bahnen, Fluggesellschaften und Schulen lahm. Für Freitag nächster Woche haben sie einen Generalstreik angekündigt. Die belgische Regierung hat die Milliardenzuschüsse an die Eisenbahn gestrichen. Sie will gegen den Protest der Studenten zahlreiche Hochschulen zusammenlegen und die Steuern erhöhen. Fast täglich wird irgendwo gegen diesen „Plan- Global“ demonstriert. In Lüttich gab es erste Tote, als Studenten die Straßen blockierten, und die Polizei knüppelte.
Die Regierung in Brüssel hat wenig Spielraum. Die Ausgabenpolitik der vergangenen Jahre hat die Staatsschulden auf die europäische Rekordhöhe von 135 Prozent hochgetrieben. Wenn das Land an der Währungsunion teilnehmen will, und dazu ist die Regierung fest entschlossen, müssen die Schulden um mehr als die Hälfte gedrückt werden – ein titanisches Vorhaben, Notopfer für Europa.
Italien steht eine ähnliche Roßkur bevor, und selbst im reichen Luxemburg sind die Gewerkschaften aufgewacht und protestieren gegen die Sparpläne. Die Nervosität in einigen europäischen Hauptstädten steigt. Um so mehr starren die Regierungen auf Paris. Sie befürchten, daß der französische Funke auch auf ihr Land überspringen könnte.
Doch die harten Konvergenzkriterien für die Währungsunion sind nicht vom Himmel gefallen. Sie wurden vor fünf Jahren im Maastrichter Vertrag von allen EU-Regierungen beschlossen, auf deutschen und britischen Druck zwar, aber doch einstimmig.
Einige Volkswirtschaftler erinnern daran, daß nicht alle Kriterien für das Gelingen der Währungsunion gleich wichtig wären. Ob eine Regierung mit mehr als 60 Prozent des Inlandsproduktes verschuldet ist, hat weit weniger Auswirkung auf die Stabilität des Euro-Geldes als die regelmäßige Neuverschuldung, die die Inflation hochtreibt. Zum großen Teil, so die Einschätzung, haben die Regierungen die Schuldenbegrenzung als Mittel zur Selbstdisziplinierung festgelegt.
Die Schuldenberge schränken die Handlungsfähigkeit der Regierungen ein. Wenn ein beachtlicher Teil des Staatsbudgets für Zinsen aufgebracht werden muß, bleibt kein Geld mehr für neue Aufgaben. Doch in den immer kurzatmiger werdenden Medien-Demokratien fehlt den Regierungen Kraft und Mut, sich mit der Beschneidung von Einzelinteressen auch einmal eine Zeitlang unbeliebt zu machen. Durch den Beschluß der Währungsunion haben sie einen äußeren Zwang aufgebaut, der es ihnen erlaubt, die Hauptschuld für unpopuläre Sparprogramme auf die EU abzuwälzen.
Die Währungsunion steht auf der Kippe. Wenn die französische Regierung nachgibt, hat sie kaum Aussichten, die jährliche Neuverschuldung von fünf auf die geforderten drei Prozent zu senken. Doch auch die harten Sparprogramme sind nicht ungefährlich. Wenn die Streikwellen sich ausbreiten, sind die kalkulierten Wachstumszahlen bald Makulatur. Und ohne Wachstum können die Regierungen ihren Haushalt nur mit neuen Schulden finanzieren. Alois Berger, Brüssel
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