Stich für Stich

■ Ein Schneidermeister blickt zurück. Sein beruflicher Werdegang spiegelt das Auf und Ab Berliner Modegeschichte

Seine Finger sind krumm und verwachsen. Spuren seiner Arbeit, Handarbeit. Am Mittelfinger ein Knick. Dort mußte der Finger den Druck der Schere aushalten. Als die Zeiten gut waren, hat er sich mit der Schere oft die Hände wund gearbeitet. Georg Bachran ist Schneidermeister. Seine Hände erzählen von der mühevollen Arbeit im Dienste der Schönheit und Mode. Der berufliche Werdegang des 88jährigen spiegelt das Auf und Ab des Berliner Modegeschäfts.

Vor fast 60 Jahren, mit 28, hatte er seinen Durchbruch, vor 50 Jahren fing er wieder bei Null an. Bald wurde jedoch „wieder losgelegt wie Deibel Juchhe“. Bis zu 20 Leute beschäftigte er damals. Vielleicht zwei Jahrzehnte lief seine Schneiderei sehr gut, dann flaute das Berliner Konfektionsgeschäft ab. Maßgefertigte Kleidung für Kundinnen waren damals schon längst nicht mehr gefragt.

Ein Rückblick auf Bachrans bewegteste Berufs- und Lebensjahre, die Kriegs- und Nachkriegszeit: Angefangen hat Georg Bachran 1932, mit 24 Jahren. Als sein Chef starb, übernahm er die Maßschneiderei. Bald darauf emigrierten die ersten Juden aufgrund der antisemitischen Repressionen. Damit verlor Bachran einen großen Teil seiner Kundschaft, die Schneiderei lief schlecht. Diejenige Kunden, die übrigblieben, hatten eine schlechte Zahlungsmoral, oft mußte er nach Feierabend den weiten Weg durch die Stadt antreten, um Geld einzutreiben. Damals ging der Schneider auch zu Fuß zur Arbeit, um die Groschen für die Straßenbahn zu sparen. Ein vierstündiger Marsch täglich. Nach knapp einem Jahr gab er das Geschäft in der Marburger Straße auf und mietete sich bei einem Kürschner ein. Wiederum mit wenig Ertrag. Selbst die billigere Schneiderei in Moabit trug nicht, schließlich baute er seine Nähmaschine in der Wohnung seiner Frau und seiner Schwiegereltern auf.

In der größten Not befolgte er den Rat eines Freundes und bewarb sich 1936 mit einer selbstentworfenen Damenjacke bei den Konfektionären am Hausvogteiplatz als Zwischenmeister. Endlich erfolgreich. Als Zwischenmeister fertigte er die Maßmodelle für die Mannequins des arisierten Konfektionsgeschäfts „Hensel & Mortensen“, aber auch für den jüdischen Betrieb „Feldheim & Goldstein“. Zwar war er gegen die Nationalsozialisten und gehörte der sozialdemokratischen „Reichsbanner“-Bewegung an. Doch im Rückblick sind ihm Verleumdungen der Nazis speziell gegen die jüdischen Konfektionäre und die „jüdische Mode“, wie sie in Dokumenten nachzulesen sind, nicht geläufig. Auch hatte es für ihn selbst keine negativen Folgen, daß er für den jüdischen Konfektionär arbeitete. Selbst daß ringsum jüdische Konfektionäre „verschwanden“, Geschäfte plötzlich und häufig ihre Besitzer wechselten, hat ihn damals nicht weiter berührt oder aufgebracht. Ein Achselzucken. „Wir waren zwar irgendwie anders, politisch, aber auch sehr dumm“, seufzt Ehefrau Erika Bachran. Wenig hatten sie damals bemerkt, für ihren oppositionellen Standpunkt gar eine gewisse naive Sicht behalten.

Georg Bachran überlebte mit viel Glück den Krieg. Auch die Wohnung und die vielen Stoffballen aus Vorkriegszeiten fand er im Juni 1945 noch vor, die Nähmaschinen jedoch hatte die SS konfisziert. Ein harter Neuanfang, Stich für Stich. Mit Umarbeiten hatte er zu tun, auch für russische Soldaten nähte er. Als einer von ihnen die Anprobe unterbrach und zur Toilette ging, traf er im Berliner Zimmer die nähende Familie an. „Kapitalist, Kapitalist!“ habe ihn der Russe angeschrien. Ein Ausbeuter sei er, keinen Finger würde er rühren. Als ihm der Schneider seine abgearbeiteten Hände und die Nadel zeigte, stellte sich der „Kommunist“ wieder zur Anprobe.

Georg Bachrans Blick zurück ist eher Zeit- als Modegeschichte. Es scheint, als interessierten ihn im nachhinein die modischen Launen, mit denen er ein Leben lang beschäftigt war, nicht mehr. Fragen danach, wie die Kleider geschnitten waren, welchen Geist sie ausstrahlten, überhört er gern. Das ist um so erstaunlicher, als er doch selbst Kleider für Kundinnen (nach diversen Vorlagen aus Modejournalen oder auch Entwürfen aus Paris) gefertigt hat und seine Frau damals dank seinen Kreationen „glatt ein bißchen tonangebend“ war. Erika Bachran lacht bei diesen Erinnerungen. Bereits in den 30ern, als dies noch lange verpönt war, trug sie Hosen. Später führte sie bei Theaterbesuchen die Modelle ihres Mannes vor, noch bevor diese die offizielle Feuertaufe auf dem Laufsteg bestanden hatten.

Er lächelt bei ihrer Erzählung, doch statt der Erscheinung sind für ihn Machart und Qualität der Kleidung eher ein Thema. Die praktische Seite seines Handwerks allein zählt im Rückblick. So ist es auch kaum überraschend, daß sich seine Erinnerungen auf Zeiten konzentrieren, die sein Handwerk besonders beeinflußten, wie die Notzeiten der 30er und 40er Jahre, aber auch der aufkommende Überfluß des Wirtschaftswunders. 1945 kamen die Frauen mit sämtlichen Stoffen und Resten zu ihm, die sich noch irgendwie zu Kleidung verarbeiten ließen. „Da habe ich Modelle gebaut, so was hat man noch nicht gesehen – die unmöglichsten!“ lacht er. Die Wut habe ihn dann gepackt, als die langen Kleider in Paris auf den Laufsteg kamen: „Ja, sind die denn verrückt, mit den langen Klamotten soviel Stoff zu verschwenden, dazu noch im Sommer!“ habe er gedacht. Dior's New Look war das; einige Jahre später nähte er selbst solche Modelle für „Oestergaard“ und „Horn“, auch die eigenen Kreationen, die er für die Modenschauen der Schneiderinnung entwarf, sparten nicht an kostbaren Stoffen. Die schönsten davon bewahrt seine Frau bis heute auf. So auch das dezente schwarze Abendkleid aus kostbar schwerer Seide mit aufwendiger Stickerei. Eine einzigartige Maßarbeit, die die Zeiten überdauert hat und überdauern wird. Petra Brändle

Derzeit ist Georg Bachran im Krankenhaus und muß sich einer schweren Operation unterziehen. Deshalb von ganzem Herzen die besten Wünsche!