„Die Philister niederwerfen“

Trinker, Stromer, „Hooligan“: Sergej Jessenin war ein Meister im Vermeiden von Takt und Mäßigung. Seine „Gesammelten Werke“ sind jetzt erstmals auf deutsch erschienen  ■ Von Anke Westphal

Was für eine Verbindung: Als Sergej Jessenin und Isadora Duncan im Frühjahr 1922 heiraten, gilt Jessenin – in Rußland – als aktuelle und die Duncan als verblühende Berühmheit. Eine ungemütliche Konstellation. Die Ehe zwischen dem russischen Dichter und der amerikanischen Tänzerin wurde denn auch kaum zwei Jahre später aufgelöst – nachdem etliche Möbel zertrümmert und Gläser zu Bruch gegangen waren.

Sergej Jessenin hatte 1917 schon einmal geheiratet. Die Ehe mit Sinaida Reich hielt nicht lange und wurde 1921 endlich offiziell geschieden. Auch für die ex- und egozentrische Duncan muß es alles andere als einfach gewesen sein, „mit einem von der Natur ausschließlich für Poesie erschaffenen Organ“ zusammenzuleben. Maxim Gorki ist es, der Jessenin ein so unglaublich edles Wesen zuschreibt – aber Gorki konnte Isadora Duncan auch nicht ausstehen.

„Er war jung, schön, genial. All dieser Gaben nicht genug, suchte sein dreister Geist das Unerreichbare, und er wollte die Philister niederwerfen“, so schreibt die Duncan über ihren Mann und beweist damit eine subtilere Kenntnis des Dichters, der „die schwarze Kröte mit der weißen Rose vermählte“.

Sergej Jessenin will seit frühester Jugend Schriftsteller werden. Fehlendes Durchhaltevermögen ist, vom Glauben an das eigene Talent ganz zu schweigen, sein Problem nicht. „Als ich achtzehn war, wunderte ich mich, daß Gedichte, die ich an Petersburger Zeitschriften verschickt hatte, nicht geduckt wurden, und fuhr nach Petersburg. Dort empfingen sie mich liebenswürdig ...“

Es ist sicher nicht nur Jessenins Talent, das den Symbolisten Alexander Blok bewegt, den Zwanzigjährigen in einen der bedeutendsten Petersburger Salons, den von Sinaida Hippius, einzuführen. „Gedichte begann ich früh zu schreiben, mit neun Jahren etwa“, heißt es in einem Text „Über mich“ vom Oktober 1925.

Sergej Jessenin war eigentlich zur Ausbildung an eine „geschlossene kirchliche Lehrerschule“ geschickt worden, aber „aus Sehnsucht nach der Großmutter“, bei der er aufgewachsen war, weggelaufen. Eine Stelle im Kontor der Moskauer Buchhandelsgenossenschaft mit immerhin fünfundzwanzig Rubel monatlich hatte er nach kurzer Zeit aufgegeben, um sich 1913 als Gasthörer an der Schanjawski-Universität einzuschreiben. „Schreib mir bitte die Anschrift irgendeiner Zeitung, und gib mir einen Rat, wohin ich die Gedichte schicken soll“, so fällt er schon im Juli 1912 seinem Freund Grigori Panfilow auf die Nerven.

Zu dieser Zeit vergnügt sich der 1895 im russischen Konstantinowo geborene Bauernjunge zwar noch beim Fischfang, übt sich jedoch schon in jenen „Radautouren“ und Beleidigungen, die ihn später mindestens ebenso berühmt machen sollen wie seine wehmütige Dorflyrik. Die Worte „Vollidiot“, „Dreckskerl“ und „Hundsfott“ verwendet Jessenin in seinen Briefen ausgesprochen gern, und selbst die Jugendliebe Maria Balsamowa muß hin und wieder wenig Zärtliches zur Kenntnis nehmen: “... sogar dich kann ich nicht leiden. Wirklich Manja, in Dir sind wenig Säfte, die etwas Nützliches hergeben können.“Takt oder gar Mäßigung sind nie Jessenins Fall gewesen. Zu stark quälen ihn Schwermut und Schuldgefühle. Zu sehr muß er die eigene Hybris hätscheln, um den Wandel der Zeiten, Talent und Berufung im Leben und auf dem Papier aushalten zu können – wenigstens hin und wieder.

„Bin sehr individuell“, heißt es 1923 in einer anderen „Autobiographie“. In den „Gesammelten Werken“ Sergej Jessenins finden sich noch drei weitere, in ihrer Differenz höchst aufschlußreiche Textvarianten aus den Jahren 1922, 1924 und 1925.

Nun ist Individualität nicht umsonst zu haben. Früh ist Jessenins Leben vom Tod infiziert, ebenso früh spielt Alkohol eine Hauptrolle darin. In den Briefen wimmelt es von – mehr oder weniger – geheimen Selbstmordplänen: „Ich habe eine Essenz getrunken, wenn auch nicht viel ... In meinem Mund war alles verbrannt.“ (Ende 1912 an Maria Balsamowa) „Schwer hat man's auf Erden“, „Leben oder nicht leben? Verzweifelt ringe ich die Hände – was tun? Wie leben?“ – so quält er sich, gerade mal siebzehn Jahre alt.

Mal ist er Vegetarier, möchte aber um keinen Preis so genannt werden, was ihn wiederum nicht hindert, seine Freunde zum vegetarischen Leben anzuhalten. Dann wieder frißt und säuft Jessenin wie ein Moskauer Kutscher, denn er tut sich nun einmal schwer mit dem passiven Begehren. Er dürstet zwar nach „Reinheit“, verfällt in religiöse Schwärmereien, versucht sich sogar zeitweise in Askese, zeigt jedoch wenig Begabung dafür.

So zieht er schließlich wieder bechernd um die Häuser – eine heimatlose Seele, ein Bürgerschreck in großkariertem Jackett, ein „Hooligan“, so auch der Titel eines seiner Gedichtbände. In Moskau montiert Jessenin, der sich selbst einen „Stromer“ nennt, Straßenschilder ab und ersetzt sie durch selbstgebastelte, auf denen sein Name steht. Er bekämpft die russischen Symbolisten, Futuristen, Akmeisten, begründet die Schule der Imaginisten mit und verwirft später deren Manifest. Jessenin hatte die Oktoberrevolution von 1917 zwar begrüßt, mußte aber zwangsläufig wegen seiner poetischen Idealisierung des russischen Dorfes mit der Sowjetmacht in Konflikt kommen: „Kommunismus“, das bedeutete schließlich „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“.

Sinaida Hippius hat in ihrem „Petersburger Tagebuch“ die allmähliche Etablierung der bolschewistischen Macht zwischen 1917 und 1919 und die damit verbundene, latent einsetzende Lähmung der russischen „Intelligenzija“ beschrieben. Im Dezember 1919 verläßt Hippius ihre Heimat. Auch Sergej Jessenin, der „zweite Puschkin“, sieht sich erst einmal im Ausland um, besucht mit Isadora Duncan Berlin, Paris und Venedig, bereist auch Amerika. „Amerika mag ich ganz und gar nicht“, stellt er in „Über mich“ fest. „Während man heute auf Amerika Kurs hält, bevorzuge ich unseren grauen Himmel und unsere Landschaft: eine Kate, leicht in die Erde gesunken, aus dem Zaun ragt eine riesige Stange, in der Ferne schwenkt ein dürres Pferdchen seinen Schweif im Wind.“

Das ist nun kein besonders fröhliches oder gar idyllisches Bild, aber Sergej Jessenin ist ja auch alles andere als ein naiv-sentimentalischer Bauerndichter. 1923 kehrt er nach Rußland zurück, vollkommen erschöpft durch Alkoholexzesse und Depressionen, enttäuscht, weil er in der westlichen Welt als Künstler kaum von sich reden machen konnte, und unglücklich in der Ehe mit der bedrückend vitalen Isadora Duncan. Die junge Sowjetmacht benötigt den extravaganten Mann nicht. Seine „schwarze Braut Schwermut umarmt“ Jessenin immer öfter und inniger.

Gedichte, Poeme, Prosa, Briefe, Aufsätze, Erinnerungen von Sergej Jessenin – man merkt der Ausgabe im besten Sinne an, daß der Herausgeber und Übersetzer Leonhard Kossuth Jahrzehnte mit diesem Werk verbracht hat. An die sechzig Übersetzer haben sich im Verlauf dieses Jahrhunderts an Jessenins Werk gewagt, einundzwanzig Nachdichter verzeichnet allein diese Werkausgabe. Der Herausgeber hat gut daran getan, mitunter verschiedene Übersetzungen ein und desselben Gedichts aufzunehmen. Kossuth muß sein halbes Leben in sowjetischen Archiven abgesessen haben, und wer sowjetische Archive kennt, der weiß, daß dies, was die sogenannten schwierigen Schriftsteller angeht, mitunter bis heute eine Mühsal ist.

Übersichtlich und unterhaltsam fallen Leonhard Kossuths Einführung und Kommentare allerdings gewiß nicht aus. Da verläuft man sich schon mal in mit ausgesprochen akademischer Sorgfalt hinmeißelten Erklärungen, und der Schweiß strömt, wenn man liest, daß Jessenins erste Ehefrau Sinaida Reich als „Maschinenschreiberin“ (!) arbeitete. Gemeint ist natürlich Stenotypistin – „Sekretärin“ hätte schon wieder eine andere Konnotation. Andererseits trifft man bei einiger Ausdauer auf rechte Perlen editorischen Fleißes: „Gnädiger Herr, Sergej Alexandrowitsch, ich habe die Ehre, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Sie ein rechtes Miststück sind ...“ So „würdigte“ Anatoli Marienhof, daß sich Jessenin drei Monate nicht bei seinem besten Freund gemeldet hatte; das will erst einmal gefunden und zusammengesetzt sein. Auch auf die graphische Gestaltung dieser „Gesammelten Werke“ hat man ausgesprochen viel Liebe verwandt. Das Einbandleinen ist von symbolischem Blau – einer Lieblingsfarbe Jessenins –, und die Typographie bezieht sich auf die russische Avantgardekunst der zwanziger Jahre. 98 Fotos kommentieren die Geschichte dieses unruhevollen Lebens auf ihre Weise. Jessenins 100. Geburtstag und 70. Todestag fallen in dieses Jahr 1995. Sergej Jessenin erhängt sich am 28. Dezember 1925 im Zimmer Nummer 5 des Leningrader Hotels „Angleterre“. Sein Abschiedsgedicht schreibt er mit Blut. Eines der letzten Fotos im Band drei dieser „Gesammelten Werke“ zeigt Jessenin nach seinem Tod mit den Spuren der Autopsie im Gesicht. Auf dem Totenbett, und auch das kann nicht nur Zufall sein, sieht er aus wie James Dean im Schlaf.

Sergej Jessenin: „Gesammelte Werke in drei Bänden“. Hrsg. von Leonhard Kossuth, Verlag Volk und Welt, 1088 Seiten, 178 DM

Anatoli Marienhof: „Roman ohne Liebe. Erinnerungen an Jessenin“. Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner, Volk und Welt,

212 Seiten, 38 DM

Carola Stern: „Paare: Isadora Duncan – Sergej Jessenin“. Rowohlt Berlin, 172 Seiten, 32 DM

Sinaida Hippius: „Petersburger Tagebuch“. Aufbau-Verlag,

132 Seiten, geb., 38 DM