Zauber der Silben

■ Im Werkstattprogramm präsentiert das DeutschlandRadio Berlin ab heute drei Wochen lang eine Reihe zur "Lautpoesie"

„Gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori“ – alles klar? Genau: Lautpoesie! Hugo Ball, 1916, Cabaret Voltaire. War gesprochen, ist verklungen und folgte damit dem Schicksal jeder akustischen Kunst vor Erfindung der Schallaufzeichnung. Die Deklamationskultur ist verstummt und hat sich nicht wieder etablieren können. So sind diese eigentlich recht wohlklingenden Verse nur gedruckt bekannt und werden wohl zumeist als von bübischen Dadaisten angerichteter Buchstabensalat betrachtet. Aber sehen ist nicht hören.

Mit vierzehn auf drei Wochen verteilten Sendungen besinnt sich das DeutschlandRadio Berlin auf radiophone Kunst, auf Formen von Sprachkunst, die im Radio ihren angemessensten Platz haben. Den orientierenden Ariadne-Faden bildet eine sechsteilige Sendereihe zur Geschichte der internationalen Lautpoesie von Christian W. Scholz, dem besten Kenner auf diesem Feld. „Dichtung vom Kopf in Kehlkopf und Bauch gerutscht?“ fragt Scholz und erzählt die Geschichte des befreiten Sprachklangs aus seinen Anfängen bei Christian Morgenstern und Paul Scheerbart um 1900, berichtet von dem furiosen Strudel der Sprache unter den Dadaisten Ball, Hausmann, Schwitters ebenso wie von der ekstatischen Begeisterung der italienischen Futuristen.

Die Wiederentdeckung der Musik in der Sprache biegt das Sprechen in die Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik zurück. Oder, anders gesagt: Die Dadaisten, am lautesten der Chefchronist Raoul Hausmann, sprengten die „Logisierung der Sprachen mittels Grammatik und Syntax“ zugunsten einer „Alchimie des Wortes“. Dazu war erst einmal das Sprechen gewollt zu verlernen, um allein durch Klang der Stimme und Artikulation zu einer Mitteilung ohne Worte und zu Ausdruck ohne Sinnbezug zu gelangen. Nicht was gesagt wird, wirkt, sondern wie es gesagt wird: Wieder einmal macht der Ton die Musik. So entstand eine Dichtung des Vorsprachlichen mit einem breiten Spektrum zwischen ausgelebter Lust am Brabbeln und minutiös durchstrukturierter Komposition.

Etwas merkwürdig ist, daß hierzulande fast ausschließlich deutschsprachige Autoren akustischer Dichtung bekannt sind. Sie dürfte, da sie doch ganz Klang ist, eigentlich keine Sprachgrenzen kennen. Folgerichtig zeigen weitere Sendefolgen die Internationalität dieser Sprachkunst. Der französische „Lettrismus“, der eine Atomisierung der Worte zu isolierten Buchstaben vornimmt und neu erfundene Laute zu sinnfreien Geräuschgebilden zusammensetzt, wird ebenso vorgestellt wie Beiträge aus Skandinavien, Nordamerika und Australien. Mit der Tonbandtechnik trat die Lautpoesie, die zuvor Papiermusik war, wieder in eine „orale Phase“. Die Gründer der „Poésie sonore“ – Henri Chopin, François Dufrêne, Bernhard Heidsieck – verbreiterten die gestalterischen Möglichkeiten und lösten sich endgültig von der Schrift, die ja den Klangvorgang nur ebenso dürftig wiedergibt wie eine Partitur die Klanggestalt eines Stückes Musik. In der Mixtur der Künste Literatur, Neue Musik und Hörspiel sind die Übergänge fließend, oft zur Unkenntlichkeit verschmolzen. Infolgedessen haben sich die jeweiligen Redaktionen – was viel zu selten ist – zusammengetan und versammelt, was auf ihrem Feld an Maul-Werken gewachsen ist. Da fehlt natürlich nicht Jandls Ernst, dem mit dem Portrait „du wundern mein schön deutsch sprach“ ein Denkmal ausgesprochen wird. Und es fehlen auch nicht die mehr berüchtigten als berühmten Hörspielautoren Franz Mon, Gerhard Rühm und Oskar Patior. Dieser Gattung wird hier auch John Cage zugerechnet, der als Allround-Mephistopheles auch zur Poesie einen eigenständigen Beitrag geleistet hat. Eher der Musik zuzuschlagen ist die „Symphonie pour un homme seul“, der Geräuschopernklassiker von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Sie ist ein Abgesang auf den einsamen Menschen, der in einer technisierten Umwelt doch überwiegend noch die steinzeitlichen Kommunikationsformen von Grunzen, Geschrei und Geheul pflegt – insbesondere bei der Ausübung dessen, was unter „Erotica“ abgehandelt wird. Ansonsten bilden das Sprechen der Gegenstände, die Sphäre der Geräusche Rahmen und Hintergrund für diese Symphonie alles Klingenden.

Mit dieser Retrospektive, die Verlorengeglaubtes, Raritäten und Rekonstruktionen in detektivischer Kleinarbeit zusammengesucht hat, zeigt der öffentlich- rechtliche Rundfunk endlich einmal wieder, was er außer kultureller Bedenkenträger, Stimmungskanone, Nachrichtenlieferant und Verkehrswart noch ist: Gralshüter der akustischen Künste. Frank Hilberg

DeutschlandRadio: „Lautpoesie“, vom 11. bis 29.12., Mo.–-Fr. (außer 25.12.), jeweils 0.05–1.00 Uhr