Die Genese der Klima-Bibel

Über 2.500 Forscher aus aller Welt lieferten die Fakten für den UN-Klimabericht  ■ Von Stephan Singer

Eher bedrohlich als heilig stehen die über 3.000 Seiten Kleingedrucktes noch ohne Eselsohren im Regal. An dem bisher noch unveröffentlichten zweiten Klimabericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) arbeiteten in den letzten zwei Jahre mehr als 2.500 Wissenschaftler aus hundert Ländern. Diese Woche nun wird in der heiligen Stadt Rom das Werk der Staatengemeinschaft zur offiziellen Genehmigung vorgelegt. „Lesen“ kann man die aus aller Welt zusammengetragenen Berichte nicht, die unter anderem penibel analysieren, bei welchen Emissionen von welchen Treibhausgasen die Erde um zwei, drei oder vier Grad Celsius wärmer wird, wie viele Indonesier bei einem Anstieg des Meeresspiegel umgesiedelt werden müssen oder welche Reissorten bei einer Dürre noch Erträge garantieren. Bedingt durch den zwischenstaatlichen Charakter des IPCC, müssen die von dem UN-Gremium vorgelegten Dokumente vor einer Veröffentlichung nicht nur unzählige Überprüfungen standhalten, sie müssen auch von der Staatengemeinschaft im Konsens angenommen werden.

„Erst kommen die Kollegen aus aller Welt, die am Text nörgeln, einer nach dem anderen natürlich, dann politische Beamte, die bereits in der Schule Physik und Chemie geschwänzt haben, dicht gefolgt von den Umweltverbänden, für die ein heißer Sommer schon die Klimakatastrophe ist, während sich die Normalbürger am Meer erfreuen. Schließlich beehren uns die Kohle-Lobbyisten mit ihren gezinkten Gutachten. Ist das alles überstanden, muß das Plenum des IPCC die Belagerung durch Klimadiplomaten überstehen, die sich schon bei der Klimakonvention nicht einigen konnten.“ Mit diesen Worten beschrieb der Pionier der Klimaforschung, Steven Schneider, Professor aus Boulder im US- Bundesstaat Colorado, sein Engagement in dem Gremium.

Das IPCC wurde im Jahre 1988 auf Veranlassung der UN-Vollversammlung ins Leben gerufen und mit der Aufgabe betraut, mögliche Elemente einer späteren Klimakonvention zu erörtern. Damit überfordert, wurde zwei Jahre später der schwierige Prozeß zur Einigung auf eine Konvention von der UN direkt in die Verantwortung der staatlich abgesandten Klimadiplomaten übertragen. Das IPCC konnte sich fortan der Wissenschaft zuwenden und legte 1990 den ersten Klimareport vor, dem aus Anlaß des Rio-Gipfels, zwei Jahre später, eine Aktualisierung folgte.

Das IPCC ist in drei Arbeitsgruppen (AG) untergliedert, die für Rom jeweils einen vollständigen Bericht und eine Zusammenfassung für die politischen Entscheidungsträger erstellt haben. Das IPCC selbst betreibt keine eigene Forschung, seine Aufgabe besteht darin, die verfügbare wissenschaftliche Literatur auszuwerten. Alle drei Berichte aus den Arbeitsgruppen ergeben zusammen die IPCC-Studie.

Mit dem „Herz“ des IPCC, der Klima- und Atmosphärenforschung, beschäftigt sich die AG I, mit den Klimafolgen sowie der Forschung über Anpassungs- und Verzögerungsmaßnahmen die AG II, und die AG III evaluiert die ökonomischen und sozialen Implikationen einer Klimaänderung. Bei jeder AG liegt eine von Regierungen, UN- und Wissenschaftsorganisationen zusammengestellte Expertenliste, aus der die Hauptautoren für die Berichte ausgewählt werden. Die Benennung der Autoren ist bekannt, und es sollte bei jedem Thema mindestens ein Wissenschaftler aus der Dritten Welt vertreten sein. Der von ihnen verfaßte erste Textentwurf wird an andere Wissenschaftler, aber auch an supranationale Körperschaften wie FAO, Weltbank, OECD oder UNEP gesandt. Die überarbeitete zweite Version geht nun an die Regierungen und dann erneut an die Forschergemeinde. Im Idealfall wird dann der dritte Textentwurf fertig. Wegen der Eitelkeit von Wissenschaftlern, der Heterogenität von Interessen und der politischer Ranküne der Beteiligten gibt es diesen Idealfall nicht, und oft kursieren verschiedene Versionen eines Textentwurfs zu gleicher Zeit. Aber auch hier geschahen abstimmungstechnische Wunder, und die AGs konnten noch rechtzeitig vor Rom eine Zusammenfassung erstellen. Diese Zusammenfassungen sind für die Öffentlichkeit fast noch wichtiger als der Originalreport.

In den Plenarsitzungen der AGs dürfen zwar nur die Regierungsvertreter abstimmen, doch an den Diskussionen beteiligen sich immer mehr Lobbyisten. Während die Umweltseite meistens die Wissenschaftler verteidigen, diktieren Lobbyisten wie der Vertreter der Global Climate Coalition, ein Zusammenschluß von etwa 50 US- Unternehmen aus den Bereichen Kohle, Erdöl und Bergwerke, den OPEC-Staaten direkt ihre Statements. Sind die Zusammenfassungen und damit die AG-Berichte gebilligt, muß das IPCC-Plenum – die Konferenz in Rom – alles noch einmal im Paket akzeptieren.

Angesichts dieses konsensgeprägten Sammelsuriums von Politik, Wissenschaft und Partikularinteressen bleibt es ein Wunder, daß die wesentlichen IPCC-Dokumente und Ergebnisse den Ansturm der „Klimaskeptiker“ bis Rom überlebt haben. Aber das symbolisiert auch die wissenschaftliche Überzeugungskraft der überwältigenden Majorität der Forschergemeinde. Das IPCC weicht kein Jota davon ab, daß eine Klimaveränderung mit verheerenden Folgen für Mensch und Umwelt kommen wird, wenn der Planet sich keiner Entziehungskur von der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen unterzieht. Und in der Arbeitsgruppe III setzte sich die Erkenntnis durch, daß eine Halbierung des Ausstoßes von Treibhausgasen volkswirtschaftlich nicht teurer ist, als die gegenwärtige Praxis einer ineffizienten und klimafeindlichen Energieversorgungsstruktur.

Sollte dieser sehr detaillierte Gesamtbericht diese Woche angenommen werden, wird er in den nächsten Jahren eventuell das wichtigste Dokument für die Klimakonvention darstellen und als Katalysator für ein mögliches internationales Protokoll zur Reduktion der Treibhausgase fungieren. Insofern kann das zeitraubende und oft ehrenamtliche Engagement der Klimaforscher schon verstanden werden, denn die Ergebnisse des IPCC können nach der offiziellen staatlichen Absegnung nicht in die beliebte Schublade der „grünen Turnschuhwissenschaft“ abgelegt werden.

Der Autor Stephan Singer ist Referent für Klimaschutz und Energiepolitik beim World Wide Fund for Nature (WWF) in Frankfurt.