■ Filmfest in Huelva Eine Reiseskizze
: Andalucia universal

Andalusien ist Wanderung. Innenhof der Kulturen, mondwärts. Nicht von ungefähr schrieb der Dichter Juan Ramón Jiménez: „Mein Leben war Entbehrung, Revolution, ständiger Schiffbruch. Und auf jeder Reise packte ich mein Haus auf meine Schultern; war alles ständig Umzug und Verlust von Allem: Häuser, Dinge, Bücher und vor allem: Manuskripte, Manuskripte. Und überall mußte ich von neuem beginnen, und während all dieser Zeit, vom Anfang bis zum Ende hin: Krankheiten, Krankheiten, Krankheiten.“ (Aus dem „Cante Jondo“, eine ursprüngliche Ausdrucksform des Flamenco-Gesangs).

Am Anfang war auch mir eigener „Sang“. Ich erinnere eine mittlerweile entferntere Kindheit und zwei Schulen im Schwarzwald. Morgens das deutsche Gymnasium, nachmittags der muttersprachliche Unterricht für die Sprößlinge der spanischen Gastarbeiter. Zwei Systeme, zwei Wahrheiten. Die Geographien waren feingewobene Haltungen in die jeweils andere Region. Nicht nur einer sich widersprechenden Geschichtsschreibung, auch den Voralpenlandschaften, deutschen Mittelgebirgen und den Küstenstreifen an Nord- und Ostsee begegnete ein paar Stunden später das inbrünstig geträllerte Lied der kulturellen und politischen Gegenden Spaniens. Wir wußten bald, daß Andalusien immer ein eigenes Stück Süden zu schreiben wußte und acht Provinzen hatte. Dem fernen Madrid und seiner Diktatur zum Trotze bewahrte die maurische Region ihre Eigenheiten und Träume. So wie „Al-Andaluz“ noch heute Akzente setzt aus dem tiefinneren Sang seiner Phantasien. Jenseits von Politintrigen, Parteiskandalen, Wassernot und einem immer stärker ins Tragikomische mündenden „Felipismo“: Málaga, Almeria, Granada, Huelva, Cádiz, Sevilla, Córdoba und Jaén.

Im Laufe der Zeit war es mir vergönnt, die besungenen Städte alle zu besuchen. Die letzte dieser Tage erst: Huelva. Eine erwartungsvolle Reise. Vergangenheiten nachspüren und Neues, Visionäres gar, entdecken – so die Maxime. Schließlich liegt Palos de la Frontera am Rande der Stadt und, nahezu im Originalzustand erhalten, das Kloster „La Rábida“.

Der Beginn der Neuzeit aus den Visionen des Genueser Tuchmachersohnes Kolumbus erfährt gerade dort, auf historischem Boden, eine sonderbare Leibhaftigkeit ins Surreale. In unmittelbarer Nachbarschaft, ein paar Kilometer ins Landesinnere verirrt, das Dorf Moguer. Andalucia pura. Weißgetüncht wie idyllisch. Geburtsstadt des Dichters Juan Ramón Jiménez.

Doch nicht die Spuren von damals lockten mich im November nach Andalusien, sondern die XXI. Iberoamerikanischen Filmfestspiele von Huelva. Ein Breitengrad Utopia in ihrer Einzigartigkeit. Einmalig deshalb, weil die „Begegnung der Kulturen“ einen zauberischen wie visionären Ort erfahren in der Idee und Durchführung dieses einwöchigen Filmmarathons im Wettbewerb um den „Goldenen Kolumbus“. Fast ortsgenau an jener Stelle, an der die drei kolumbischen Segelschiffe zum Aufbruch ins neue Zeitalter gerüstet worden waren, hob man vor 20 Jahren ein Filmfestival aus der Taufe, das sich zum Ziel gesetzt hatte, den lateinamerikanischen Film zu fördern und in der Begegnung mit den ehemaligen Kolonien ein anderes Abenteuer zu wagen: ein Stück gemeinsamer Kultur. Entstanden ist daraus ein Festival der konsequenten Superlative: Huelva als Cinecittà. Dieses Jahr ganz im Zeichen der hundertjährigen Filmgeschichte. Mit den 15 offiziell zum Wettbewerb nominierten Beiträgen waren Retrospektiven und Hommagen angesagt, über 140 Filme. Das Onubenser (die Einwohner von Huelva, Anm. d. Red.) Publikum hatte eine Woche lang die Wahl und durfte neben dem Preis der internationalen Jury seinen eigenen „Colón de Oro“ vergeben. Und wie jedes Jahr war das Publikum anderer Meinung als die Experten. Seine Gunst gehörte einem der Beiträge aus Argentinien. „Caballos salvajes“ (Wilde Pferde) von Carlos Piñeyro. „Mit jeder Entscheidung riskiert der Mensch sein Leben ... Und das macht ihn frei.“ Zwei Männer, José, der 70 Jahre alt ist, und der 23jährige Pedro, treffen in einem entscheidenden Augenblick aufeinander. Der ältere will seinem Leben ein Ende setzen, der jüngere fängt gerade erst an zu leben: Die unverhoffte Begegnung verändert sie. Weder wird aus dem einen der verzweifelte Alte, der seinen geplanten Tod stirbt, noch entwickelt sich der andere zum vorgezeichneten Yuppie ... „Wilde Pferde“, ein Film, der sich in Argentinien zum Publikumsrenner mauserte, in der filigranen Psychologie zwischen den beiden Hauptdarstellern und durch die befreiende Weite Patagoniens in seinen Aufnahmen überzeugte.

Die Begründung für die Kür der Jury verlas kein Geringerer als Mario Vargas Llosa, realakademischer Peruaner mit spanischem Paß und Präsident der diesjährigen Jury. Sie vergab ihren „Goldenen Kolumbus“ an „Sicario“, einen Film von José Novoa aus Venezuela, der in Kolumbien spielt. Sicario, der Meuchelmörder, erzählt die dramatische wie brutale Geschichte Jairos. Ein Jugendlicher, der sich, um dem Elend des Slums zu entkommen, als Mörder verdingt. Bestialische Gewalt. Töten, um Geld zu verdienen und selbst getötet zu werden. Zwischen Armut und Drogenkartell ist kein Entrinnen möglich. Ein Actionfim, der zwar technische Mängel spüren ließ, dessen „dokumentarischer Wert“ bei der Entscheidung jedoch überwog. „Die bedingungslose Beschreibung einer grausamen Realität ohne Demagogie“ bescheinigte Vargas Llosa dem Gewinner.

Huelva war wieder einmal mehr ganz Abenteuer. Diese alljährlich stattfindenden Filmfestspiele machen hungrig nach mehr – und Meer. Der Ozean, der sich im Zusammenfluß von Rio Tinto und Odiel einfranst, verbindet die Menschen. Licht und Schatten, die entführen ins Wirkliche und Vorstellbare der Realitäten und Lebensformen. Kein Wunder, daß dieses Festival gerade hier stattfindet. Andalusien ist stets ein zu Verlassendes, um dort zu bleiben: Patio der Kulturen. Offen. José F. A. Oliver (Lyriker und Sänger)

P.S.: Der Nobelpreisträger Juan Ramón Jiménez hat in späten Jahren seine Manuskripte und Bücher mit „andaluz universal“ signiert.