Freikarten für Mozarts Requiem

■ Um sieben werden sie geweckt, um acht müssen sie das Haus verlassen: Frauenleben in einem Leipziger Obdachlosenheim

Was Armut ist, wissen sie. „Sich nicht mehr selbst was machen zu können.“ Im Obdachlosenheim bekommen die 15 Frauen alles gereicht, das Frühstück, den Kaffee, die gewaschene Wäsche. Zwei Maßeinheiten bestimmen ihr Leben: die Uhr und das Geld. Um halb sieben gibt's Frühstück, komplett für eine Mark. Um acht sperrt Heimleiterin Schuchardt die Haustür ab, alle müssen raus auf die Straße. Ab vier Uhr nachmittags dürfen sie wieder rein.

Um sechs hebt Betreuerin Müller den Deckel von der grünen Essenskiste, die der Großküchenservice geliefert hat: Sauerkraut, Püree und einen Lappen Fleisch für diejenige, die zwei Mark zahlen kann. Wer das Essen nicht mag oder nicht zahlen kann, bekommt Brot, Margarine und Tee. Kostenlos. Gertrude Maier ist Vegetarierin. „Ich kann mir noch nicht einmal Gemüse kochen, weil wir in der Küche nichts machen dürfen.“ Heimleiterin Schuchardt hat den Frauen verboten, in der Küche zu hantieren. Ebensowenig dürfen sie an die Waschmaschine. „Die Geräte können so schnell kaputtgehen.“

Brigitte, Babsyi, Gertrude Maier, Frau Schneider und die anderen zwölf Frauen sind seit mehreren Monaten wohnungslos. Zwischen acht und vier verbringen sie die Zeit in einem Tagescafé. Danach sitzen sie im Aufenthaltsraum des Wohnheims, trinken Tee und schauen fern. Sie haben zwar eine Adresse, aber keine nächsten Angehörigen mehr.

Brigitte, 53, kam vor sechs Wochen hierher. Ihr Ehemann hatte sich wieder einmal zugesoffen und wurde brutal. Diesmal stand er mit einem Beil vor ihr. „Da habe ich ganz leise die Tür hinter mir zugemacht.“ Ihre Tochter wohnt mit Sohn und Mann im Reihenhaus in Hitzacker in der Nähe von Lüchow-Dannenberg. Noch nicht einmal angerufen hat Brigitte die Tochter und ihr vom rasenden Vater und dem Obdach erzählt. „Als ich sie Ostern gesehen habe, sagte sie mir, daß sie immer zum Vater hält. Egal, was passiert.“

Der Mann von Frau Schneider ist schon lange tot. Ihre 1.000 Mark Witwenrente besserte sie sich als Platzanweiserin in zwei Kinos am Ort auf, ihre kleine Wohnung kostete 600 Mark. Im Kino traf sie Erwin. Der redete von großer Liebe. Frau Schneider war betört, schloß ihre Wohnung zu und zog zu ihm. In ihrem Glück vergaß sie, die Miete zu zahlen. Um die Räumungsklage kümmerte sie sich nicht, sie hatte genug mit Erwin zu tun. Der schüttete drei Flaschen Schnaps am Tag in sich hinein und prügelte sie. Als er die Möbel aus dem Fenster schmiß, holten Nachbarn die Polizei. Eine eigene Wohnung hatte Frau Schneider jetzt nicht mehr. Die Funkstreife setzte sie vor dem Obdachlosenheim ab.

Frau Schneider ist jetzt 60. Tagsüber läuft sie durch die Geschäfte und hofft, daß die Stadt ihr eine Wohnung zuweist. „Ich möchte mein Leben noch einmal schön gestalten. Wie bei Erich.“ Weil ihr Einkommen über 650 Mark liegt, zahlt sie drei Mark Miete am Tag für ihr Bett.

Jeden zweiten Tag holt sich Babsyi beim Sozialamt 18,88 Mark ab, die Hilfe für die nächsten 48 Stunden. Wenn sie beim Essen knausert, reicht das Geld noch für ein Päckchen Tabak. Eine eigene Wohnung hat die 29jährige noch nie gehabt. Immer war sie in Verwahranstalten, zuerst im Kinderheim, dann im Knast. Vier Jahre verbrachte sie auf der Straße. Nachdem sie vergewaltigt wurde, suchte sie Zuflucht im Obdachlosenheim.

Babsyi nennt die untere Hälfte eines Etagenbettes und die linke Seite des Kleiderschranks ihr eigen, wo die Waschlappen übereinandergefaltet, T-Shirts zu einem Haufen geschichtet sind. Den persönlichen Luxus stellt sie auf dem Nachttisch aus: blauer Lidschatten, Erdal-Pflegecreme, ein Stück blaue Lux-Seife, eine Blechmedaille vom Leipziger Völkerschlachtdenkmal. Ihr Trost hängt über dem Kopfkissen, Jesus und Mutter Maria mit blutendem Herzen als Heiligenbildchen.

„Die Frauen, die wir hier haben, sind psychisch sehr labil und oft auch desorientiert“, sagt Heimleiterin Schuchardt. Doch psychologische Hilfe kann die Adventisten-Pfarrerin ihnen auch nicht geben. „Eigentlich haben wir nur einen Betreuungsauftrag von der Stadt erhalten: zuzusehen, daß die Frauen nicht auf der Straße liegen und Bürger sich nicht belästigt fühlen.“

Als Betreuungsgeld zahlt die Stadt dem Verein 3.000 Mark im Monat für jede Frau. Manchmal hält Heimleiterin Schuchardt den Frauen die Männer vom Leib, die nach ihnen suchen, manchmal wartet sie auch mit einer Überraschung auf. Mit dem Rest eines kalten Büfetts oder mit fünf Gewandhaus-Karten für Mozarts „Requiem“. Drei Karten wurde sie für die beschwingte Totenmesse los. Anette Rogalla