"Öffentlicher Prozeß" gegen Wei Jingsheng

■ Dissident wegen "Umsturzplänen" in Peking vor Gericht Internationale Proteste gegen das Vorgehen der Behörden

Peking/Berlin (AFP/taz) – Die chinesischen Justizbehörden haben gestern bestätigt, daß der prominente Dissident Wei Jingsheng am Mittwoch wegen „umstürzlerischer Aktivitäten“ vor Gericht gestellt werden soll. Dies hatten Angehörige des 45jährigen am Samstag berichtet. Der Prozeß sei öffentlich, bestätigte ein Gerichtssprecher. Zugleich betonte er allerdings, daß jeder Zuschauer vor Verfahrensbeginn einen Antrag auf Prozeßbeobachtung stellen müsse. Die Familie des Angeklagten habe diesen Antrag bereits eingereicht.

Wei Jingsheng droht die Verurteilung zu einer langjährigen Haftstrafe, schlimmstenfalls sogar zur Todesstrafe. Seine Vertretung vor Gericht wird nach Angaben der Familie der Anwalt Zhang Sizhi übernehmen, der bereits die Demokratieaktivisten Wang Juntao und Chen Ziming verteidigt hatte. Ob die Verhandlung tatsächlich „öffentlich“ sein wird, ist sehr fraglich: In der Vergangenheit haben die chinesischen Behörden bei ähnlichen Prozessen die Zuschauerränge mit handverlesenen Leuten gefüllt.

Wei, der in diesem Jahr als Kandidat für den Friedensnobelpreis galt, war zunächst als Aktivist in der Pekinger Demokratiebewegung 1978/79 bekannt geworden. In nichtoffiziellen Zeitschriften und auf Wandzeitungen an der Pekinger „Mauer der Demokratie“ forderte er schon damals eine Demokratisierung Chinas und griff die Herrschaft der Kommunistischen Partei und ihre graue Eminenz Deng Xiaoping direkt an.

1979 wurde der ehemalige Soldat, der später als Elektriker im Pekinger Zoo arbeitete, in einem Schauprozeß verurteilt. Vierzehneinhalb Jahre saß er in Arbeitslagern und Gefängnissen wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“. Im Herbst 1993 wurde er „vorfristig“ entlassen, was viele Beobachter damals darauf zurückführten, daß China sich für die Olympiade 2000 bewarb und mit diesem Schritt bessere Chancen erhoffte.

Allerdings fügte sich Wei nicht den behördlichen Warnungen: Er kritisierte die chinesische Regierung öffentlich, er gab Interviews in der Auslandspresse und traf sich mit dem für Menschenrechtsfragen zuständigen US-Staatssekretär John Shattuck. Wichtiger noch: Für die versprengten und zumeist im Untergrund agierenden chinesischen Regimekritiker galt Wei als Motor einer möglichen neuen Demokratiebewegung. Er trat nicht nur für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein, sondern auch für mehr gewerkschaftliche Freiheiten und Schutz der Arbeiterinteressen. Im April 1994 wurde Wei erneut in Gewahrsam genommen.

Am 21. November wurde Wei nach über 18 Monaten Polizeihaft – während deren die Behörden keinerlei Information über das Schicksal des Verschwundenen gaben – offiziell unter Anklage gestellt. „Umstürzlerische Aktivitäten“ gelten in China als politisches Kapitalverbrechen, das mit mindestens zehn Jahren Haft, maximal mit der Todesstrafe geahndet werden kann.

Gegen seine neuerliche Inhaftierung hatten zahlreiche Staaten, darunter die USA und die Bundesrepublik, protestiert. Wei ist von amnesty international (ai) als gewaltloser politischer Gefangener anerkannt. Die beiden hochrangigen US-Juristen Thornburgh und Katzenbach haben sich der Familie als Anwälte angeboten – eine Geste, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den chinesischen Behörden zurückgewiesen werden wird.

Möglicherweise soll der Prozeß gegen Wei Jingsheng jetzt schnell über die Bühne gebracht werden, bevor die nächste Sitzung der UNO-Menschenrechtskommission in Genf wieder zusammentritt. Dieses Gremium, das jedes Jahr im Frühjahr mehrere Wochen lang tagt, hatte 1995 mit knapper Mehrheit entschieden, nicht über die Menschenrechtslage in China zu debattieren. li