Kotzbrocken

Gibt es unter den Genialen mehr Unsympathen als unter den weniger Begabten – oder wird charakterliche Niedrigkeit bei den Big Shots nur stärker wahrgenommen? Zur Kunstausübung auf hohem Niveau gehört zwar ein gewisses Maß an Egomanie; daß einer aber ein derart monumentaler Kotzbrocken wie Frank Sinatra sein muß, hat wohl doch eher mit Sozialisationsschäden oder fiesem genetischem Material zu tun als mit den Eigengesetzlichkeiten der Künstlerpsyche.

Frankie-Boy war immer an Bord, wo es eklig zuging: Im Vietnamkrieg sang er noch für die Truppen, als sein halbes Land schon auf der Straße war, um den Krieg zu beenden; mit der Mafia verbanden ihn Seilschaften, die nie ganz aufgeklärt, aber auch nie widerlegt wurden; immer wenn Präsidentschaftswahlkampf war, konnte man sicher sein, Frank Sinatra vorneweg im Troß für den miesesten Reaktionär zu sehen, und die Sängerin Sinnead O'Connor wollte er zur Hölle schicken, als sie sich weigerte, die US-Nationalhymne zu singen.

Wer aber all das im Kopf hat, während er einen Sinatra- Song hört, soll besser andere, weniger geniale Sänger hören. Künstler sollen gute Kunst produzieren und nicht guten Charakter; schließlich lebt ihre Kunst im günstigsten Fall auch dann noch, wenn die scheußliche Künstlerperson den Planeten längst verlassen hat.

Lichtjahre waren und sind sämtliche politisch sympathischen Künstler von Sinatras Gesangstechnik, seinem genialen Rhythmusgefühl und seinem hemmungslos ausgelebten Schnulzentalent entfernt – selbst Anti-Vietnam- Sänger wie Crosby, Stills Nash and Young oder Grace Slick. Sie konnten wundervoll singen und sangen doch in der zweiten Liga, verglichen mit dem Schmierlapp.

Am schönsten kann man's bei „New York, New York“ hören: Sinatra singt, wie immer, vor einem kleinen Jazzorchester. Die Musiker laufen rund, treiben energisch gleichförmig vorwärts, spielen wundervoll aus der Hüfte. Ihr Sänger führt einen einfach scheinenden und doch nicht ganz leicht zu realisierenden Trick vor, der bei ihm fast zur Manie wurde: Er verzögert seine Einsätze. Immer wenn die „Eins“ kommt, der erste Taktschlag, sitzt Sinatra noch breit grinsend auf dem letzten Ton des vorigen Takts (oder in der kunstvoll gedehnten Pause). Mal kommt er vielleicht eine Viertelsekunde zu spät, mal weniger, mal deutlich mehr. So setzt man, im Widerspiel zu einem perfekt spielenden Orchester, einen Song unter Spannung. Und: Er konnte Schnulzen singen wie außer ihm höchstens noch Elvis. Bei Sinatra wird man scheibendick belogen und fühlt sich viehisch wohl dabei. Wenn er jetzt 80 wird, hör' ich wie immer seine Musik und ignoriere die Person.Klaus Nothnagel