Baustelle, Staustelle, Autohölle

Morgen wird am Sachsendamm die 225 Millionen Mark teure Lücke der Autobahn A 100 geschlossen. Die älteste Straßenbaustelle Deutschlands bremste täglich 200.000 Raser ab. Am Steuer sitzt  ■ Rolf Lautenschläger

Das Fegefeuer für Berlins Autofahrer heißt Sachsendamm. Wer täglich durch die Staufalle am Nadelöhr der A 100 muß, büßt für den Autobahnwahn und die Unbill der Teilung. Die notorische Staustrecke, an der Tag für Tag fast 200.000 Raser abbremsen und die giftigen Bleikonzentrationen und Kohlenstickoxide astronomische Meßwerte erreichen, ist Ort der Verzweiflung und des stieren Blicks. Wer nach einer Stunde bremsen, vorwärtshoppeln und wieder halten den schmalen Tunnel am Sachsendamm erreicht hat, lebt auf, gibt Gas und ist wieder ganz Schwein als Bleifuß. Ich behaupte, jeder war das mal: Staugeplagter und Abfahrer.

Mit der Höllenfahrt am Sachsendamm ist es ab morgen vorbei. Am 15. Dezember wird die Autobahnlücke der A 100 zwischen Schöneberg und Tempelhof geschlossen. Den breiten Durchstich deckelt eine Betonplatte für den Schienenverkehr. Darunter kann dann von Tegel über Charlottenburg bis Neukölln „durchgebrettert“ werden.

Die älteste Autobahnbaustelle Deutschlands – die seit 23 Jahren Lkw- und Pkw-Fahrer gleichermaßen gequält hat und die Anwohner gleich mit – eröffnet mit vier Autobahnspuren unter der Bahntrasse. Gemeinsam mit der Stadtstraße am Sachsendamm werde das Autobahnverbindungsstück auf 70 Meter Breite der am stärksten befahrenen Rennbahn Berlins endlich zum „zügigen Durchfluß“ verhelfen, wie Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) bei einer Vorbesichtigung meinte. Acht Monate früher als vorgesehen „wird den Berliner Autofahrern ein Weihnachtsgeschenk“ gemacht, so Wolfgang Nagel stolz.

Für das 1,9 Kilometer lange Teilstück legte sich der Bausenator tüchtig ins Zeug: Um nicht bis zum Sommer 1996 buddeln zu müssen, setzte Nagel eine Steuerungsgruppe für die Bauabläufe ein und trieb die Arbeiter auch nachts auf die Baustelle. „Die Bauabläufe wurden bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht“, meinte damals Nagel-Sprecher Ralf Schlichting. Es werde schneller gebaut, damit der Verkehr rollen könne. Den letzten Schliff (zwei Auffahrten) will Nagel dem Durchstich dann 1996 geben. Immerhin: Die Kosten wurden um ein paar Millionen Mark gedrückt. Dennoch: Der Straßenwahn kostete 225 Millionen Mark, davon zahlte der Bund 142 Millionen. Hinzu kommen 55 Millionen für den Brückenbau und rund 30 Millionen Mark für Lärmschutzmaßnahmen.

Die Sache war billiger angedacht. 1972, bei Baubeginn für den A-100-Lückenschluß zwischen Naumann- und Alboinstraße, kalkulierte der Senat noch mit 25 Millionen Mark. Die Rechnung war jedoch ohne die DDR-Reichsbahner gemacht, unterstanden doch das Bahngelände und die Brücken den Ostberlinern. Zwar gab es 1974 Verhandlungen zwischen der Reichsbahn und dem Senat, der neue S-Bahngleise und den Bau eines Güterbahnhofs als Ersatzleistung für den Abriß der alten grünbewachsenen Stein- und Stahlbrücken angeboten hatte. Aber die realsozialistischen Betonköpfe erwiesen sich als die eigentlichen Ökologen. 1976 stockten die Verhandlungen, Ostberlin gab die Brücken nicht frei. Westberlin mußte umplanen. 1983 eröffnete das A-100-Provisorium als „Schmalspurslalom“, wie damals die BZ höhnte.

Zwar gab es nach dem Fall der Mauer kein ideologisches Hindernis mehr für den Durchstich, ein Politikum und eine Pannenbaustelle blieb der Sachsendamm dennoch. Als 1989 neue Straßenvarianten – darunter ein doppelstöckiger Tunnel – geprüft wurden, reklamierten Umweltschützer, Bürgerinitiativen und die AL im Abgeordnetenhaus den Erhalt von „Öko-Brücken“, damit Kaninchen gefahrlos die Autobahn queren könnten.

Sachlicher kam die Kritik der BI Westtangente daher: Weil durch die acht parallelen Fahrspuren Mega-Verkehre entstünden, die Fahrstreifen mit einer 70 mal 70 Meter großen Betonplatte für die Bahn gedeckelt werden sollten, und Nagel das Verfahren per Beschleunigungsgesetz durchpeitschen wollte, riefen die BI und der BUND 1992 zum Widerstand und zur Klage vor dem BVG auf. Das Ergebnis ist bekannt: Öko-Brücken gibt es nicht, die BUND-Klage wurde abgewiesen, und ab 15. Dezember donnert der Autoverkehr achtspurig über den Sachsendamm – bis zum nächsten Stau.