Wer kocht den gefillten Fisch?

Jüdinnen fordern gleiche Rechte und Pflichten in der Synagoge, initiieren egalitäre Gottesdienste und wollen Synagogenvorsteherin werden können  ■ Von Anita Kugler

Es war bei einer Podiumsdiskussion über die Rolle der Frau in der jüdischen Gemeinschaft kürzlich in Berlin: Sichtlich bewegt trat der Vorsitzende des jüdischen Seniorenclubs ans Mikrophon und bat um Aufklärung. Er sehe hier zum erstenmal in seinem Leben eine Frau mit der doch Männern vorbehaltenen rituellen Kippa auf dem Kopf, eine Rabbinerin sogar. Bedeute dies, daß das „Wesen des Judentums“ sich verändere, und heißt das, fragte er in einem russisch klingenden Deutsch, „daß die Frauen werden beten in der Synagoge und der Mann wird kochen zu Hause den Fisch“? Entsetzt fügte er hinzu: „in so einem Haushalt möchte ich nicht leben“.

Die paar hundert ZuhörerInnen die gekommen waren, um genau diese Emanzipation der Frauen vom gefillten Fisch hin zu den Chancen einer religiösen Gleichberechtigung in der Synagoge auszuloten, quittierten seine Sorgen mit herzlichem Gelächter. Rabbinerin Bea Wyler aus Oldenburg, die Frau mit der Kippa, lächelte hungrig wie ein Tiger: „Wenn Frauen lernen können, die Tora zu leiten, dann können die Männer auch lernen, einen Fisch anständig zu kochen“, antwortete sie.

Aber dürfen die Frauen überhaupt lernen, die Tora zu leiten? Darf es nach den Regeln der Halacha – dem jüdischen Gesetzeswerk, die das Leben eines frommen Juden und einer frommen Jüdin von morgens bis abends ordnen – Rabbinerinnen geben? Müssen Frauen in den orthodoxen Synagogen auch in den nächsten paar Jahrhunderten von den Männern getrennt, auf der Frauenempore oder hinter Gittern, Platz nehmen? Und in liberalen Synagogen auf extra Bänken? Ist die traditionelle Rolle der Frau als Tochter, Mutter, Hüterin der jüdischen Werte im Haus nicht ein einziger Anachronismus zur politischen und sozialen Gleichberechtigung? Kurzum: Sind Tora, Talmud, die Kommentare, die Halacha Werke von Männern für Männer oder in den letzten Jahrhunderten nur falsch gelesen worden?

Die Kontroversen darüber sind in den jüdischen Gemeinden von Hamburg bis München voll entbrannt. In den USA und England sind Rabbinerinnen schon längst keine Ausnahmen mehr. In Deutschland aber regieren die Orthodoxen; eine Folge der Auslöschung des liberalen deutschen Judentums im Nationalsozialismus. Die Juden, die aus den Lagern für displaced persons kamen und im Nachkriegsdeutschland hängenblieben, kamen überwiegend aus den Shetdln von Osteuropa.

Bea Wyler, seit dem 1. August Rabbinerin in Oldenburg und Braunschweig und nach Regina Jonas in den 30er Jahren (siehe unterer Text) die zweite Rabbinerin in Deutschland überhaupt, wird von der Mehrheit ihrer Kollegen nicht anerkannt. Sie selbst legt Wert darauf „Rabbiner“ genannt zu werden, „er ist ein Titel, den ich mir durch langes Studium erworben habe“. Sie zählt sich zur konservativen Richtung im Judentum, für die die Regeln der Halacha bindend sind. Aber diese begründen sich aus der Tora, und in der Tora stehe nirgends geschrieben, „daß Frauen nicht lernen und lehren dürfen“. Im Gegenteil. Die Tora nenne einhundertvierzig Frauen, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um Frauenrechte durchzusetzen. „Und es funktionierte.“ Die moderne Aufgabe sei es deshalb, die Schriften nach den Rechten der Frau durchzusehen. Das Ergebnis wird sein, daß „die Männer die Frauenrechte lernen müssen“.

Dazu ist in Berlin inzwischen sogar der vor einigen Wochen neu berufene orthodoxe Rabbiner Moshe Dick aus New York bereit. Die Frauen sollen zwar weiter auf die Empore gehen oder hinter den Gittern sitzen, auf Kippa und Gebetsmantel verzichten, aber Kompromisse innerhalb der Halacha wolle er suchen. Judentum sei „kein Faktum, sondern ein Prozeß“. Kürzlich ließ er sogar ein Mädchen bei ihrer Batmizwa (vergleichbar der Konfirmation) einen Vortrag halten und eine Frau am Grab ihres Vaters das Kaddisch (Trauergebet) sprechen. Das geht vielen in der orthodoxen Gemeinde entschieden zu weit. Vielen anderen, vor allem den Frauen, gehen diese Neuerungen zu wenig weit. In Berlin feiern etwa fünfzehn Frauen seit zwei Jahren alle drei Wochen den „Rosh Chodesh“. Dieser im Talmud erwähnte Tag, zelebriert jeweils zu Beginn des neuen hebräischen Monats, war in babylonischen Zeiten ein Frauenfeiertag. Als diesen kennen ihn heute nur noch die jüdischen Feministinnen. Bei ihren Treffen zünden sie Kerzen an, studieren die hebräische Bibel, veranstalten Workshops wie „Wie stellt man einen Gebetsmantel her“ oder „Wie backe ich einen Challah“ (Zopfbrot). Diese Gruppe hat den „egalitären Gottesdienst“ mit initiiert. Ihn gibt es nicht nur in Berlin, sondern auch in Frankfurt, Köln, Hannover, in Bea Wylers Gemeinden, in München. Auch dieser „egalitäre Gottesdienst“ – in den liberalen Gemeinden der USA und England schon lange selbstverständlich, raubt orthodoxen Juden den Schlaf. Dort beten Männer und Frauen gemeinsam.

Inzwischen gibt es in Berlin sogar zwei verschiedene egalitäre Gottesdienste, die von zehn bis dreißig Männern und Frauen besucht werden. Die traditionellere Variante findet seit kurzem einmal im Monat zum Shabbatbeginn (freitags) im Gemeindehaus statt. Die radikalere, feministischere Version der „Rosh Chodesh“- Gruppe existiert seit 1993 alle drei Wochen am Sonnabendmorgen. Früher traf man sich in einer Privatwohnung, jetzt in einem Arbeitsraum der Neuen Synagoge – Centrum Judaicum.

Bei diesen egalitären aber von Frauen dominierten „minjan“ im Centrum Judaicum gibt es kaum ein religiös-patriarchalisches Gebot, gegen das die TeilnehmerInnen noch nicht verstoßen haben. Jedesmal leitet eine andere Frau, manchmal auch ein Mann, das Ritual, benutzt werden jüdische Gebetstexte vorwiegend aus den USA. Wer eine Kippa oder einen Gebetsschal besitzt, trägt ihn, egal ob Mann oder Frau. Die Lieder sind die alten traditionellen, aber ihre Texte haben jüdische Feministinnen mit neuen Strophen angereichert. Die Wochenabschnitte aus der Tora lesen die TeilnehmerInnen abwechselnd vor. Hintereinander ist Hebräisch oder Englisch, die deutsche Fassung von Martin Buber oder eine klassische zu hören. Interpretiert wird der Wochenabschnitt gemeinsam.

Der Gottesdienst ist konzentriert und fröhlich. „Wir müssen die Lieder rhythmischer singen“, sagt Rifka, die Vorsängerin, und schlägt mit den Händen den Takt auf den Tisch. Lea fragt: „Müssen wir bei diesem Gebet nicht aufstehen?“ Ina sagt „ja“, und alle stehen auf. „Für mich ist das Judentum so spannend, weil zu seinem Wesen die Veränderung gehört“, sagt Eliza. Schließlich gebe es kein Konzil, das Dogmen für Jahrhunderte festlege, sondern nur das „Ritual des Ortes“, und das kann sich ändern, wenn man etwas bewege. Denn alle Rituale entsprängen den Textdeutungen, und interpretiert werden müßten die Bücher immer aufs neue. „Das ist das Judentum! Und die Jüdischkeit ist deshalb für mich ein großes intellektuelles Vergnügen.“ In den egalitären „minjans“ ist es Eliza möglich, ihre Religiosität mit ihrem Verständnis von einem jüdischen Leben außerhalb der Halacha zu verbinden. Ganz ähnlich wie die Journalistin Eliza argumentiert auch die Schriftstellerin Salomea. „Jüdischsein ist ein Lebensentwurf.“ In der Gemeinde von Berlin mit ihren erstarrten Ritualen habe sie diesen nie realisieren können.

Nicht religiös, sondern politisch haben die emanzipierten Frauen von der „Rosh Chodesh“-Gruppe vor einigen Wochen das konservativ dominierte Gemeindeparlament in Berlin das Fürchten gelehrt. Im Mai 95 verabschiedete die Repräsentantenversammlung, ohne ihre 10.000 Mitglieder vorher zu informieren, eine Wahlordnung für die Synagogen-Vorstandswahlen im Oktober. „Wählbar ist jeder männliche Wahlberechtigte“ über 25 Jahre, heißt es da in einem Paragraphen. Das sei undemokratisch und unhistorisch, argumentierten die Frauen. In den dreißiger Jahren hätten sie mehr Rechte besessen als heute, und „transparent“ sei das Verfahren ohnehin nicht gewesen. Sie schrieben offene Briefe, sammelten Unterschriften für das Recht, kandidieren zu dürfen, starteten eine Kampagne für eine nachträgliche Revision der Wahlordnung und erhielten dafür breite Zustimmung sogar aus den etablierten Kreisen der Gemeinde. Trotz allen Wirbels erzielten sie letztlich doch nur einen Teilerfolg. Die Wahlordnung wurde nachträglich nicht geändert, soll aber für die nächsten Synagogenvorstandswahlen in zwei Jahren überarbeitet werden. „Wir bleiben am Ball“, verspricht die temperamentvolle Eliza „damit das Judentum wieder wird, was es einmal war: vielfältig, lebendig, eine ständige Herausforderung für den Kopf und die Sinne.“