„Schrift der Seele in Tönen“

■ Zwischen Kerzenschimmerstimmung und inneren Abgründen: Grigorij Sokolow gab u.a. Chopin und Bach in der „Glocke“

Wird Bremen Klavierstadt? Das könnte man sich fragen, wenn man sich die beiden neuen Konzertzyklen vergegenwärtigt, die dem Publikum seit diesem Jahr ausschließlich Klaviermusik bieten. Damit wird das alljährliche Kompaktangebot von Radio Bremen – ein dichtgedrängter Zyklus mit sehr jungen Pianisten – nun ergänzt, zum Teil sogar mit Weltklassepianisten. Ob und wie die Angebote angenommen werden, muß sich zeigen: Beim zweiten Konzert der Reihe „Klavier plus“ der Konzertdirektion Praeger und Meyer, diesmal mit Grigorij Sokolow, war der unwirtliche große Glockensaal jedenfalls nur zur Hälfte gefüllt.

1966 sorgte eine Meldung aus Moskau für eine Sensation: Gegen stärkste internationale Konkurrenz hatte der damals 16jährige Grigorij Sokolow den anspruchsvollen Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb gewonnen. Seitdem steht sein Name bei selbstverständlich größtem handwerklichen Können für künstlerische Vorsicht, ja Bedächtigkeit. Er hat sich nicht als Tastenlöwe verheizen lassen, wie so viele seiner KollegInnen. Er hat nie populäre Programmme gemacht, sondern immer höchst überlegte Bezüge oder Kontraste hergestellt.

Von solch zunächst einmal innerer Kraft war auch der jetzige Klavierabend, der auf Virtuosität vollkommen verzichtete. Die überraschende Konfrontation der Präludien und Fugen aus dem zweiten Teil des „Wohltemperierten Klavieres“ von Johann Sebastian Bach mit den „Nocturnes“ von Frédéric Chopin bekam durch die Interpretation nicht nur eine Stimmigkeit, sondern auch einen imaginären inneren Zusammenhang.

Sokolow spielt die Präludien von Bach rein expressiv-atmosphärisch, verleiht jedem einzelnen mit einer Anschlagskunst ohnegleichen einen bestimmten Farbenzauber. Vom aufführungspraktischen Standpunkt aus, also der Herausarbeitung von Rhetorik und Affekt, ist diese Opposition gegen einen konstruktivistischen Ansatz sicher fragwürdig und anfechtbar. Ganz besonders dann, wenn sich geradezu impressionistische Schleier über die Musik legen, jagende Motorik oder ziselierende Anschlagstüftelei in größter Kunstfertigkeit entfaltet wird.

Die Fugen baut Sokolow dynamisch regelrecht auf und wieder ab: Sie steuern auf einen nicht selten erschlagenden Höhepunkt zu und entfernen sich wieder von ihm. Beides bleibt trotzdem von ausreichender struktureller Klarheit, weil der Pianist die Strukturen entwickelt und niemals aufsetzt. Angesichts der pianistischen Mätzchenlosigkeit und des außerordentlich in sich gekehrten Spiels dürfen dann die Forderungen nach stilistischer Authentizität, die ohnehin nur Cembalisten in die Tat umsetzen können, sekundär erscheinen.

Diese Art der Gesamtdramaturgie zeigte sich auch in der Wiedergabe der sechs „Nocturnes“ von Frédéric Chopin. Keine Klischees über rubatogesättigte Unterhaltungsmusik wurden hier wiedergegeben, sondern „Schrift der Seele in Tönen“ (so ein zeitgenössischer Kritiker), existentielle Situationen zwischen Kerzenschimmerstimmung und inneren Abgründen. Chopin verstand den Salon als Ort bewußter ästhetischer Opposition gegen die entstehende Massenkultur: ein heute leider immer noch irritierendes Chopinbild, das Sokolow wunderbar vermittelte.

Das Publikum reagierte nicht direkt mit donnerndem Beifall, sondern zögernd: Sokolow dankte es mit der lustvollen Virtuosität der ersten Klavieretude.

Ute Schalz-Laurenze