Geschlechterdrama

Die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper ist auch die Geschichte des Geschlechterkampfes  ■ Von Ingrid Strobl

Der Wiener Autor Gerhard Scheit hat sich als Theaterwissenschaftler einen Namen gemacht und „Eine kleine Geschichte der Komik: Hanswurst und der Staat“ verfaßt. Nun untersucht er in seinem wichtigsten Buch die „Dramaturgie der Geschlechter“: Beziehungen zwischen Mann und Frau in Tragödie, Komödie und Oper. Die Geschichte des Dramas seit der Orestie, stellt Scheit fest, ist ohne die Geschichte der Familienformen nicht zu schreiben – vom Clan über die bürgerliche Kleinfamilie bis zu den im Tauschwert Vereinzelten. Die Geschichte des Dramas ist somit auch die Geschichte des Geschlechterkampfes.

Emfpindsamkeit, Eros, Entsagung, Zerstörung und Erlösung sind die großen Themen, in denen sich die Dramaturgie der Geschlechter organisiert. Die Frauenfiguren in den Opern von Mozart und Da Ponte sind erfolgreiche Gegenspielerinnen der Männer: Susanna zieht die Fäden in Figaros Hochzeit, Donna Elvira verhindert, daß Don Giovanni in Zerlina ein neues Opfer findet. Dagegen müssen sich im bürgerlichen Trauerspiel die weiblichen Hauptpersonen als Töchter opfern, um die Ehre ihrer Väter zu retten. Sie verlangen auch noch, wie Emilia Galotti, „freiwillig“ den Tod, haben also die patriarchale Gewalt bereits verinnerlicht. An den Frauenfiguren in den klassischen Dramen von Goethe und Schiller zeigt Scheit die unterschiedlichen Arten von Entsagung auf: Iphigenie geht freiwillig auf Distanz zu den Vertretern des herrschenden Geschlechts und gewinnt dadurch Autorität, die Jungfrau von Orleans dagegen erscheint als „ferngesteuertes Wesen“, sie muß sterben, um endgültig zur Allegorie zu werden. In Wagners Musikdramen, die Konflikte nicht mehr zulassen, sondern nach totaler Erlösung streben, muß die Frau zerstört werden, damit die Männer erlöst werden können – nachdem sie anfangs der Erlösung des Mannes gedient hat, wie Senta im „Fliegenden Holländer“. Wedekinds Lulu schließlich führt auf der Bühne nur noch vor, welche Projektionen Männer auf „das Weib“ richten. Hier, so Scheit, werden „handelnde Männer nicht mit handelnden Frauen – als zwei Kriegsparteien – konfrontiert, sondern mit ihrer eigenen Phantasie, die handelnd geworden ist“.

Seit Nora ihren Mann verlassen hat, ereignet sich im Theater kaum noch ein Drama zwischen den Geschlechtern. Die Auflösung der Familienordnung, die Emanzipation ermöglicht, löst auch die Dramaturgie der Geschlechter auf der Bühne auf. Nun stehen sich einzelne gegenüber, die sich kaum aufeinander beziehen. Die Dramen spielen sich heute, meint Scheit, eher im Film ab, wo eine Art Dramaturgie der Gesichter den Dialog ersetzt. Doch das Ende ist offen: Die Konflikte sind nicht gelöst und müssen weiter gestaltet werden.

Gerhard Scheit: „Dramaturgie der Geschlechter. Über die gemeinsame Geschichte von Drama und Oper“. 1995, Fischer TB, 26,90 DM