In Romarios Schatten

Rios Fußballtalente taumeln zwischen reichen Klubs und lockender Unterwelt hin und her  ■ Aus Rio de Janeiro Astrid Prange

Iranildo verdient sein Geld im Schlaf. Das Frühstück läßt er zugunsten eines Nickerchens ausfallen. Und nach einem üppigen Mittagessen legt er sich wieder hin, um fit fürs Training zu sein. Der 19jährige Fußballspieler genießt das süße Profileben in vollen Zügen. Nicht ohne Grund: Die Erinnerung an den aufreibenden Alltag in dem abwassergetränkten Armenviertel Rio das Pedras im Stadtteil Jacarepagua in Rio de Janeiro liegt erst fünf Monate zurück. „Ich habe meine Familie aus der Favela rausgeholt“, erklärt er stolz. Auf dem Papier spielt Iranildo Ferreira noch immer für die Mannschaft von „Madureira“. Einen monatlichen Mindestlohn, hundert Reais, umgerechnet 150 Mark, brachte ihm die Saison im Profiteam des traditionellen Vorortklubs von Rio ein.

Mit dem Ausscheiden von Madureira aus dem Campeonato Carioca, den Meisterschaften an der Copacabana, vor fünf Monaten begann Iranildos Karriere: Botafogo, einer der größten Klubs von Rio, lieh sich den aufstrebenden Kicker für die brasilianischen Meisterschaften aus, vor deren Gewinn der Verein jetzt tatsächlich steht. Das Talent des Jungen aus der Favela, der am 20. Dezember erstmals als Mitglied der brasilianischen Nationalmannschaft nach Kolumbien reist, ist dem Klub 6.000 Mark im Monat wert.

Dabei begann Iranildos Kickerleben mit einem Korb. Als der schmächtige Jugendliche vor fünf Jahren bei Vasco da Gama in Rio anklopfte, wurde er abgelehnt. „Ich war ihnen zu mager, deswegen bin ich zu Madureira gegangen“, erzählt er und klopft auf seine Beine. Zehn Kilo Muskelmasse hat er in den letzten fünf Monaten zugelegt. Auf seine Größe von 1,69 Meter verteilen sich jetzt immerhin 62 Kilo. Die Zeiten, in denen sich seine Ernährung auf Reis, Bohnen und Bananen beschränkte, sind endgültig vorbei. Heute basteln Ernährungswissenschaftler an einer komplizierten Aufbaudiät herum, um ihn zu mästen. Wie er das aushält, nur essen, schlafen und trainieren? Der Mittelstürmer lächelt schüchtern. „Komischerweise kann ich hier immer schlafen“, meint er und räkelt sich in dem pompösen Ledersessel hin und her.

Seine neue Heimat, ein Vier- Sterne-Hotel im Rio-Stadtteil Flamengo, wirkte zunächst beklemmend auf ihn. Doch der anfängliche Luxusschock ist überwunden: „Ich fühle mich glücklich. Nachdem ich gesehen habe, daß auch noch andere Kumpels im Hotel untergebracht sind, habe ich mich schnell eingewöhnt“, erzählt er. Bis vor kurzem gehörte Iranildo noch der Gruppe von Tausenden von Fußballprofis an, die sich noch nicht einmal einen Korb mit Grundnahrungsmitteln leisten können.

Nach einer Umfrage der Associaçao Brasileira dos Jogadores Profissionais, der Gewerkschaft der brasilianischen Profifußballer, verdienen 54 Prozent ihrer Mitglieder gerade einen Mindestlohn. Vierzehn Prozent der hauptberuflichen Spieler bekommen sogar noch weniger ausgezahlt. Nach Angaben der Gewerkschaft zwingen die Hungerlöhne, die im Land des vierfachen Fußballweltmeisters gezahlt werden, viele Spieler zu Nebenverdiensten in der am Zuckerhut florierenden Unterwelt. Die Spielergewerkschaft, die sich um den „zunehmenden Moralverfall“ ihrer Mitglieder sorgt, forderte Brasiliens Sportminister Pelé kürzlich auf, etwas gegen die Mißstände in den Fußballklubs zu unternehmen.

Die beiden ehemaligen Mindestlohnverdiener Iranildo Ferreira und sein Zimmernachbar Wilson Mineiro vom Sportverein Democrata aus Valadares im Bundesstaat Minais Gerais sind dem Sog des schnellen Geldes aus der Unterwelt entkommen. „Man braucht eine Portion Glück“, räumt Iranildo ein. Sein Schicksal wendete sich, als der stellvertretende Vereinsvorsitzende von Botafogo, Antonio Rodrigues, ihn zufällig bei einem Trainingsspiel in Madureira sah. Jetzt geht es um alles oder nichts: Kein Alkohol und kein Nachtleben, weder Schule noch Familie, sein Leben dreht sich einzig und allein um Fußball. Nur selten hat er Zeit, seine Familie zu besuchen, die er mittlerweile in einer Mietwohnung einquartiert hat. Der nächste Schritt ist ein eigenes Dach überm Kopf.

Vierzehn Jahre wohnte Iranildo mit seinen Eltern in der Favela Rio das Pedras. Sein Vater, ehemaliger Berufsfußballer bei Esporte do Recife in der Landeshauptstadt des nordöstlichen Bundeslandes Pernambuco, gehört zu den Millionen von „Nordestinos“, die jährlich in die Metropolen Rio und São Paulo vor der Armut fliehen. Auch Iranildos jüngerer und einziger Bruder Wellington ist bereits auf das soziale Trampolin Fußball aufgesprungen. Der 16jährige spielt bei Madureira in der Juniormannschaft.

In welch schwindelerregende Höhen ein Sprung auf dem Fußballfeld führen kann, erfährt Iranildo nun täglich von seinen Spielerkollegen im Hotel. „Das Mindestgehalt für einen Brasilianer, der von einem europäischen Klub aufgekauft wird, liegt bei 30.000 Dollar“, erklärt Konditionstrainer Admildo Shirol, seit dreißig Jahren bei Botafogo. Romario hätte es beim FC Barcelona sicher auf 100.000 Dollar pro Monat gebracht, von den Werbeeinnahmen einmal ganz abgesehen.

Admildo Shirol, der bereits die Muskeln des legendären Garrincha in den 60er Jahren aufwärmte, wacht mit väterlich-strengen Augen über seine Zöglinge. Drei Tage vor einer wichtigen Partie dürfen die Fußballspieler keine Telefonanrufe entgegennehmen. Eine Stunde vor der Abfahrt zum Training ins Stadion müssen sie sich in der Lobby versammeln. Nur bei einem Heimspiel in Rio können die Spieler nach der Partie für 24 Stunden der Klausur in dem improvisierten Stammquartier von Botafogo entkommen.

Manchmal deprimiert Iranildo der „extreme Freizeitmangel“. Doch dann geht er auf sein Zimmer und verscheucht den Kummer im Schlaf.