Vorschlag

■ TiefenEntTrümmerung mit der Bunkerinstallation „Priwjet“

Als 1964 das Prinz-Albrecht-Palais und das ehemalige Gestapogebäude gesprengt und bis in den Keller zerstört wurden, nannte man das „Tiefenentrümmerung“. Die Theatergruppe, die sich nach dieser Bürokratenwortschöpfung benennt, versteht das Wort umgekehrt: Enttrümmern als das Gegenteil von Zertrümmern, als ein Zusammenfügen, als Rekonstruktion von Verdrängtem und fast Vergessenem. Das deutsch-russische Projekt Priwjet ist ihre neueste Produktion.

Vom Podewil sind es nur wenige Meter. Den roten Fahnen folgend überquert man ein verlassenes Grundstück mit verstreuten Mauerresten und geht dann einige Stufen hinab in die Tiefe des Littenbunkers, einem ehemaligen Luftschutzbunker. Jeweils in Minutenabständen betreten die Besucher den 400 Meter langen Bunkergang. Der erste Eindruck ist schwer erträglich: Stimmengemurmel von irgendwo, nackte, meterdicke Betonwände, Eiseskälte und am Boden aufgestellte, blau beleuchtete Wassergläser. (Fred Pommerehn hat die Installation konzipiert.) 37 kleine Räume, die man allein betritt, zweigen von dem scheinbar endlosen Gang ab. In den meisten sitzt an einem schwarzen Tisch ein dick vermummter Mensch und liest – laut und unaufhörlich. Tagebücher und Briefe aus den Jahren 1941–45, geschrieben „im Feld“ oder zu Hause, in Rußland oder Deutschland.

Mit jedem Raum nimmt man Platz in einem neuen Leben. Anders als Walter Kempowski, der in seinem „Echolot“ aus minutiös zusammengefügten Erinnerungsteilchen ein dokumentarisches Zeitmosaik erstellen wollte, legt Ingrid Hammer, deren Sammlung von Aufzeichnungen aus dieser Zeit die Grundlage der Produktion darstellt, mehr Wert auf individuelle Biographien als aufs Sezieren und neu Zusammenfügen. Lange höre ich einem älteren Mann mit großer Nase zu, der einen schwarzen Flanellmantel mit hochgeschlagenem Kragen trägt. Er liest aus dem Tagebuch eines in Deutschland Gebliebenen. Zum Kämpfen ist er wohl zu alt. Zunächst nörgelt er über die schlechte Versorgung („An allem soll ja jetzt der Krieg schuld sein“), doch Satz für Satz wird der Krieg auch für ihn Realität: Er registriert, wie in den Kellern Gummidichtungen angebracht, wie die Denkmäler seiner Stadt zum Schutz vor Fliegerangriffen eingemauert werden. Den ersten Abtransport von Juden vermerkt er wie nebenbei (gefolgt von der Klage darüber, daß Robert wieder Ziegenpeter hat) und die erste Nacht im Keller erträgt er nur mit einer Flasche Schnaps. Schließlich, am Ende des Ganges, kommt man in der Jetztzeit an. Eine lange Tafel, bedeckt mit einem samtenen Tischtuch, es gibt jede Menge Wodka. Zwei der Vorleser, ein Russe und ein Deutscher, sitzen sich gegenüber und lernen sich mit einfachen Fragen kennen: „Wen wählst du bei der Wahl zur Staatsduma?“ „General Lebed.“ „Welches ist deine liebste Haarfarbe?“ „Schwarz.“ „Und Augenfarbe?“ „Blau.“ „Welche Haarfarbe hat deine Frau?“ „Schwarz.“ „Augenfarbe?“ „Blau.“ „Du bist zu beneiden.“ Volker Weidermann

„Priwjet“. Heute von 18–22 Uhr, Podewil, Klosterstraße 68-70, Mitte