Die Ostsee kriegt immer noch die Hucke voll

■ Schadstoffe kommen über die Flüsse, die aus Deutschland über die Luft

Berlin (taz) – Vielleicht wäre es für das Meer Ostsee nicht das schlechteste, wenn vor jede ihrer Flußmündungen ein gigantisches Klärbecken gesetzt würde wie in St. Petersburg. Für die AnwohnerInnen wäre der Rückstau des Drecks eine Katastrophe, zumindest die freie See aber wäre sauberer als bisher. Denn nach wie vor gelangen Hunderttausende Tonnen Stickstoff, Phosphate und Schwermetalle in das mit 415.000 Quadratkilometern relativ kleine Hausgewässer des Baltikums. Von 1,7 Millionen Quadratkilometer Landfläche fließt das Regenwasser in das Becken. 70 Millionen Menschen leben im Einzugsbereich.

Seit 1974 gibt es die Helsinki- Kommission (Helcom), die für weniger Dreck im Wasser sorgen soll. In ihr haben sich die Anrainerstaate der Ostsee zusammengeschlossen, nachdem die Schäden nicht mehr zu leugnen waren. Lange tat sich nicht viel, außer daß Wissenschaftler Zahlen sammelten. Die Robben zum Beispiel siechten langsam dahin und wurden immer weniger – sei es, weil sie einfach keine Lust mehr hatten, sich mit ihren verschmutzungsbedingten Skelettdeformationen in der Brühe fortzupflanzen oder weil sie immer weniger Fische fanden. 1988 schließlich verkündeten die Helcom-Staaten – damals noch mit DDR und Sowjetunion – ein großes Ziel für das Jahr 1995: die Reduzierung des Schadstoffeintrags um 50 Prozent auf der Basis der Zahlen von 1987.

Das Ziel wird nicht erreicht, aber die Situation bessert sich. Neuere Zahlen sind Mangelware, die letzte Auswertung stammt von 1992. Und die Zahlen aus vielen Ländern wie den baltischen Staaten und Rußland sind mehr oder weniger grob geschätzt.

Gut 660.000 Tonnen Stickstoff pro Jahr überdüngen das Meer zusammen mit 60.000 Tonnen Phosphor – übermäßiger Algenwuchs und Sauerstoffmangel sind die Folgen. Die Schwermetalle Quecksilber, Cadmium und Blei werden heute um 40 bis 70 Prozent weniger eingespült. Musterknabe ist hier Schleswig-Holstein, wo zum Beispiel die Belastung mit Blei aus der Industrie praktisch auf Null sank. Auch aus Estland, Lettland und Litauen kommt weniger Gift. Einerseits zwacken diese Länder etwas für den Umweltschutz aus ihrem knappen Staatshaushalt ab. Andererseits sorgt der dortige Niedergang der Industrie für weniger Abwässer aus diesem Bereich. Der einzige Ausrutscher ist Rußland: Dreimal mehr Cadmium und 20 Prozent mehr Blei als 1987 leitete 1992 der gößte Anrainer in die Ostsee.

„Rußland tut aus Geldmangel am wenigsten“, sagt Heike Schmitt vom Fachbereich Meere und Küsten des World Wide Fund for Nature in Bremen. „Von dort gibt es auch kaum Daten.“ Nach wie vor gibt es 137 „Hot spots“ an den Flüssen um das Meer, unzureichende Kläranlagen und Umweltverschmutzer wie Papier- und Zellstoffabriken. „Aber Tieren wie den Robben geht es besser“, so Schmitt. „die Skelettdeformationen lassen nach, die Vermehrung scheint wieder gesichert.“

Doch auch das reichste Land der Ostsee-Runde trägt sein Scherflein bei: Durch den Wind aus Richtung Westen kamen 1992 geschätzte 280.000 Tonnen Stickstoff über die Luft aus Deutschland – alle anderen Länder zusammen brachten es in dieser Disziplin nur auf 94.000 Tonnen. Ein schöner Gruß von der germanischen Autolawine und der Landwirtschaft, deren Abgase über dem Meer niedergehen. Reiner Metzger