Alice im Plunderland Von Christiane Grefe

„Mit der Maus die DS/2- Software-Verschenk-

maschine anklicken:

,Haben wollen!‘“

Aus der Werbung für ein Kinder-Computerspiel

Meinen aktuellen Lieblings- Werbespot wollte ich neulich wegen seines metaphorischen Charakters einer Freundin erzählen. Also: Treffen sich zwei Männer, zufällig und nach vielen Jahren, in einem ziemlich edlen Lokal. Der eine mit nach hinten gelackten schwarzen Haaren, dunkler Anzug, Typ Weißweinfraktion; der andere sieht eher aus wie ein Sohn britischer Gutsbesitzer. Mensch, lange nicht gesehen! Die beiden Yuppies essen und plaudern. Doch plötzlich gefriert die Kamera, die Stimmung wird eisig, und der eine knallt – tack! tack! tack! – drei Fotos auf den Tisch: „Mein Haus! Mein Auto! Mein Boot!“

Pause. Eiseskälte. Dann holt der andere, mit dem man schon Mitleid hatte, zum Gegenschlag aus: „Mein Haus! Mein Auto! Mein Boot! Und...“ An dieser Stelle unterbrach mich Tim, der sechsjährige Sohn meiner Freundin, der herbeigeeilt war: „Genau!“ rief er stolz, „UND mein Pferdestall! UND meine DREI Pferdepflegerinnen!“

Genau: Drei vollbusige Blondinen, alles meins! Dann kommt noch das Bild, wo der Anlageberater von der Sparkasse drauf ist, und wer sagt eigentlich, daß niemand mehr die Kinder zu stabilen Werten erzieht?

Mein Recorder, meine Lego- Ritterburg, mein Pocahontas-Video: „Bei euch gibt es aber wenig Spielzeug!“ schmetterten seine Kindergartenfreunde bei ihrem ersten Besuch dem verdutzten Fünfjährigen meiner Nachbarin entgegen; dabei haben die schon so eine Mutter, die jetzt vor Weihnachten wieder Geschenkbremsen-Rundrufe bei der Verwandtschaft startet, damit Sohn und Tochter in halbwegs überschaubaren Paket- Gutgemeinheiten ersticken. Und mit „Mein Skateboard!“, „Mein CD-Player!“ und „Mein Stüssy- Pullover!“ setzt sich die Werteerziehung fort. Längst ist die Warenwelt die Kinder-Spielwiese – nur schlüssig in einer Gesellschaft, in der Kaufen nicht mehr allein Zweck ist, sondern identitätsstiftender Sinn: „Aus dem Kind“, sagt der Weimarer Kommunikationswissenschaftler Lorenz Engell, „ist ein Kid geworden.“

Dieses sieht im Kinderprogramm des Privatfernsehens bis zu 16 Reklamen vor und nach jeder Sendung. Beim „Stadt-Land- Fluß“-Wettbewerb notiert es als erstes die Spalten „Süßigkeiten“, „Mode“ und „Firmen“. Und wenn die Lehrerin in einer zweiten Klasse wissen möchte, was ihre Schüler sich, wären sie Hexer, herzaubern würden, dann kommt: „Den Magic Man.“ – „Das Barbie- Traumschiff.“ – „Eine Million Mark, damit ich immer reich bin.“ Und: „Daß man nur am Wochenende Schule haben müßte. Da haben die Geschäfte eh zu.“

Schon richtig, neu ist das alles nicht. Und doch hat sich die Kinderkonsumkultur der „Youngsters“ und „Sub-Teens“, analog zur Jugendkultur der fünfziger Jahre, erst in den Achtzigern in diesem Ausmaß entwickelt – ein Milliardenmarkt. Über alte und neue Medien – bald auch schon über Marktforschung und Werbung im Kinder-PC – dringt sie immer früher und tiefer in Alltag und Bewußtsein vor. Und widerstandsloser denn je: Die Zuckerpüppchen wachsen in einem Klima auf, in dem Konsumkritik vollkommen out of fashion geraten ist. Der Standort braucht jeden Produktionsmotor, von JOOP!Kids! bis zu den kleinen Strohmännchen und -mädchen, die laut Industrie als „Entdecker im Foodmarkt“ und „Trendsetter“ ihrer Eltern agieren. Auch die Generation, die einst gegen „Gewinnmaximierung“ und „Konsumterror“ rannte, gilt heute als „kritische, aber markenbewußte und begehrenswerte Zielgruppe“, die „um so bereitwilliger“ kauft, „je witziger und origineller sie umworben wird“, so triumphierend eine Düsseldorfer Agentur. Und selbst die härtesten Öko-Fundis setzen sich nur noch ungern dem Verdacht aus, lustfeindliche Konsummuffel zu sein. Das am meisten angstbesetzte Tabuwort, auch in der Umweltbewegung, ist „Verzicht“. Bloß niemanden verschrecken! Konsum und Werbung, schreibt François Brune, haben als Überbauern flächendeckend gesiegt: „Die Regierungen wechseln, die Werbung bleibt.“ Und die betreibe „bewußt ein erpresserisches Spiel mit Normalität, deren Definition sie sich vorbehält ... Wer Zweifel äußert, macht sich als Ewiggestriger verdächtig.“

Sicher hat Lorenz Engell recht, der meint, Kinder müßten in der Konsumgesellschaft den souveränen Umgang mit den Waren auch lernen: „Was die Aufklärung von der Lichtseite der Freiheit wußte, ... gilt möglicherweise auch für die Schattenseite der Diktatur der Waren, die wir den Kindern sowieso nicht ersparen können, weil es jenseits von ihr Kindheitsbilder überhaupt nicht mehr gibt.“ Doch dieser „souveräne“ Umgang setzt soviel Beziehung und Erlebnis wie möglich als gegenkulturellen Erziehungs-Input voraus.

Statt dessen aber stoßen Bilder und Dinge auf optimale Empfangsbedingungen: Vor allem in den Städten ist die Umwelt der Kinder von Autos verfahren, langweilig sozial sortiert und verbaut. Die Freunde wohnen oft so weit weg, daß sich der Transport nur für den Nachmittag nicht lohnt. Also spielen viele Kinderim Durchschnitt nur noch 15 statt 30 Stunden pro Woche draußen; die Hälfte hockt jeden Tag in ihrem Zimmer. Oft allein, weil viele Eltern sich Kinder nur leisten können, wenn sie beide arbeiten – und dank einer Familienpolitik, die sich auf die Halbtagsschule und ansonsten auf Zuschüsse an die Privatfirma Vater & Mutter beschränkt. Andere Erwachsene? Auch im Dienst. „Mein Leben ist Lernen und Langeweile“, sagt Charlotte, „und manchmal lerne ich aus Langeweile.“ So eine einsame, wattig entfremdete Stimmungslage macht empfänglich für schnelle Reize. Und die Welt des Konsums ist auch die einzige, die Kinder wirklich ernst nimmt: „Eine Zielgruppe, die schon weiß, was sie will“, so anerkennend die Marktforschungsbibel „Kids VA“; sie seien „knallhart beim Überprüfen von Produktversprechen“. Auf der Strecke bleiben Spontaneität, Phantasie und Körperlichkeit.

Zudem verschärft der Konsum als immer wichtigerer Lebensinhalt der Kinder die ohnehin zunehmende Erfahrung sozialer Ungleichheit. „Wo jemand nicht mithalten kann, nehmen die Aggressionen zu: Der wird sich's schon holen“, sagt eine Pädagogin. Die Fotos, die Münchner Unterschichtkinder von ihrer Umgebung knipsen, dokumentieren die Bedeutung der Konsumwelt gerade für ihr Selbstbewußtsein: Löwenbräu, Marlboro, der Supermarkt und riesige glänzende Motorräder stehen, je älter die Kinder, desto mehr im Mittelpunkt ihrer Polaroids, und am liebsten lassen sie sich von einem Kumpel selbst daneben ablichten: Der Jaguar und ich. Der Jaguar bin ich. „Ich bin ein Junge, ich bin ein Auto“ – wie in der Fernsehsendung „Turbo Teen“, wo sich tatsächlich der Hauptdarsteller immer, wenn es aufregend wird, in einen roten Flitzer verwandelt. Dann ist er stark und unbesiegbar, der Tollste von allen. Und dann wird er von allen geliebt.

Christiane Grefe ist Redakteurin beim Magazin der Süddeutschen Zeitung