„18 Jahre lang immer die gleiche Melodie“

■ Daniel Cohn-Bendit zum Juppé-Plan, dem Streik und seinen positiven Folgen

taz: Morgen beginnt in Paris der Sozialgipfel. Wagen Sie eine Prognose? Wird Juppé nachgeben?

Daniel Cohn-Bendit: Der Sozialgipfel wird zu einem Runden Tisch ausgeweitet werden. Es wird wohl eine Verhandlungsstruktur entwickelt werden. Schon das allein wäre für Frankreich ein Riesenfortschritt: Die Regierung hätte verstanden, daß sie notwendige Veränderungen und Reformen nur im Konsens durchsetzen kann und nicht von oben herab.

Gibt es denn realistische Alternativen zum Juppé-Plan?

Der Vorschlag, in Frankreich eine allgemeine Krankenversicherung einzuführen und übers Parlament eine Kostendämpfung durchzusetzen, sind zwei richtige Maßnahmen. In Frankreich beschließt das Parlament, wieviel Prozent die Lohnabhängigen für die Krankenversicherung abführen müssen, die fast beliebig Schulden machen, weil es keine Regelung der Ausgaben gibt. Die Krankenversicherung wurde bislang von den Gewerkschaften vewaltet. Die Force Ouvrière, eine der drei großen Gewerkschaften, hat sich praktisch über die Verwaltung der Krankenversicherung finanziert. Mit den beiden genannten Maßnahmen hat Juppé übrigens eine uralte Forderung der Linken aufgegriffen. Das Problem ist, daß er die Löcher mit einer völlig ungerechten und unsozialen Lösung stopfen will. Er will eine zusätzliche Steuer einführen, die die Schlechtverdienenden noch mehr belastet. Dagegen wendet sich der Protest.

Gibt es da Verhandlungsmasse? Kann Juppé da nachgeben?

Jedenfalls müssen die Besserverdienenden stärker zur Kasse gebeten werden. Da stellt sich dann auch die Frage der Besteuerung der Kapitalerträge. Da muß im europäischen Rahmen eine Lösung gefunden werden.

Der europäische Rahmen, der Maastricht-Vertrag, ist ja auch mitschuldig am Konflikt ...

Mit oder ohne Maastricht, es konnte in Frankreich so nicht weitergehen. Das Defizit der Krankenversicherung, das Defizit der Eisenbahnen zwingen Frankreich in jedem Fall eine Sanierung der Finanzen auf. Maastricht nötigt allerdings zu einem Rhythmus, den die Franzosen nicht aushalten. Aber man muß auch sehen, daß die Franzosen jahrelang Maastricht nicht ernst genommen haben.

Besteht denn die Gefahr, daß in Frankreich eine antideutsche Stimmung aufkommt, weil Deutschland angeblich den Rhythmus diktiert?

Man muß fragen, weshalb der Euroskeptiker Chirac jetzt so unbedingt für die Währungsunion ist. Er sieht, daß die Alternative eine monetäre Vorherrschaft der Deutschen, eine DM-Zone ist. Und der Rhythmus in einer solchen Zone würde dann allein von der deutschen Bundesbank bestimmt. Die Währungsunion ist die Einbindung der Bundesbank und der deutschen Fiskalpolitik in einen europäischen Rahmen und damit ein Schutz für die anderen europäischen Währungen gegenüber der D-Mark. Es stimmt nicht, daß den Deutschen am meisten an einer Währungsunion gelegen ist. Im Rahmen der Maastricht-Verhandlungen haben allen voran die Franzosen die Forderung nach einer Währungsunion hervorgebracht. Die Deutschen haben dann die Bedingungen formuliert.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat vor den streikenden Eisenbahnern gesagt: „Worum es hier geht, ist die Rückeroberung der Demokratie von der Technokratie. Mit der Tyrannei der ,Experten‘, die ohne Diskussion die Verdikte des neuen Leviathan durchsetzen, muß Schluß gemacht werden.“ Teilen Sie die Einschätzung?

Im Protest drückt sich eine Ablehnung der Eliten aus, und zwar der linken wie der rechten, die ja den gleichen Eliteschulen entstammen und die gleiche Art haben, Politik zu machen. Irgendwelche Eliten, die in speziellen Schulen ausgebildet wurden, hecken einen Plan aus. Dann kommt ein Premierminister und sagt: Das ist es. Das ist eine arrogante Art und Weise, mit den Menschen umzugehen, die ja die Konsequenzen dieser Politik ausbaden müssen. Seit 1977 Raymond Barre seine Sparpolitik verkündet hat, hören die Franzosen – das erste Jahr der Präsidentschaft Mitterrands ausgenommen – die gleiche Melodie: sparen, sparen, sparen, und dann werde es ihnen besser gehen. Aber die Arbeitslosigkeit ist immer weiter angestiegen. Und weil die Franzosen seit 18 Jahren dieselbe Melodie hören, lehnen sie nun auch Maßnahmen ab, die richtig sind. Da hat Bourdieu recht: Es ist eine Revolte gegen die Hochnäsigkeit der Eliten.

Welche Folgen wird der Streik jenseits der Auseinandersetzung um den Juppé-Plan haben?

Zwei positive Folgen kann dieser Streik haben. Erstens: Le Pen kann zurückgedrängt werden. Denn die Menschen haben die Erfahrung gemacht, daß Protest sich in den traditionellen Bahnen des sozialen Kampfes artikulieren kann und sich nicht rechtsradikal gebärden muß. Das wird einhergehen mit einer gewissen Stärkung der Kommunistischen Partei und der traditionellen linken Ausdrucksformen. Das wäre positiv. Zweitens: Die politische Klasse hat gemerkt, daß sie nicht so weitermachen kann. Die Rede Juppés vom Sonntag abend ist eine gigantische Selbstkritik. Er hat im Fernsehen angekündigt: Wir werden nun in einen Verhandlungszyklus eintreten, der sechs Monate dauern kann. Warum hat er das nicht früher gesagt? Interview: Thomas Schmid