: Alltägliches Spiel mit dem Tod
Im September kam Käthe Ebner am Kontorhaus Mitte durch einen herabstürzenden Träger ums Leben. Illegale Krantransporte gehen weiter ■ Von Uwe Rada und Ulrike Steglich
Fürs erste haben die Bilder einen Platz. Käthe Ebner hat viele von ihnen hinterlassen: Ölbilder, Grafiken, Farbholzschnitte. „Obwohl sie erst 28 Jahre alt war“, sagt Käthes Mutter Toni Ebner, „kann man bereits von einem Werk sprechen.“ Käthe Ebners Werk zu bewahren ist zur Zeit das Hauptanliegen ihrer Eltern, ihres Lebensgefährten und ihrer Künstlerkollegen.
Käthe Ebner kam am 26. September 1995 an der Friedrichstraße ums Leben. Als sie mit ihrem Fahrrad gegen 18 Uhr aus der U-Bahn-Station Stadtmitte auf die Mohrenstraße trat, wurde sie von einem herabfallenden Stahlträger der Baustelle Kontorhaus Mitte getroffen. Käthe Ebner starb noch am Unfallort. Als wäre nichts geschehen, geht der Transport von Schwerlasten über öffentlichem Straßenland am Kontorhaus auch nach dem Unglück weiter.
„Stahlträger erschlug junge Radfahrerin“ – vergrößert und von zahlreichen Blumengebinden umrankt, hängt der Zeitungsausschnitt an einem Poller an der Unfallstelle. Manfred Kuntze hat ihn am Tag nach dem Unglück angebracht. Fassungslos ist er noch immer: „Ich kam aus dem Büro, sah ein demoliertes Fahrrad am Boden liegen und dahinter eine leblose Person.“ Kuntze tat, was es zu tun gab. Er veranlaßte, daß Mitarbeiter der Victoria-Versicherung Rettungswagen und Polizei alarmierten und eine Decke und einen Fotoapparat holten. Dann rannte er auf das Gelände des Kontorhauses und suchte den Bauleiter. Vergeblich: „Ich begegnete nur Ausländern“, sagt er. Die spärliche Beleuchtung am Rohbau hat der Zeuge noch heute in Erinnerung – ein anderer berichtet, die Baustelle sei dunkel gewesen wie eine „Geisterbaustelle“.
Käthe Ebner war 1987 von Stralsund in den Prenzlauer Berg gezogen. Nach ihrem Studium der Malerei und Grafik an der Kunsthochschule Weißensee, dem Abschluß als Meisterschülerin und einem Auslandsjahr in Italien und Irland war sie seit 1994 freischaffend. An jenem 26. September war in ihrem Terminkalender für 18 Uhr ein Italienischkurs in der Krausenstraße notiert. Der U-Bahn-Ausgang wurde ihr zum Verhängnis. Binnen Sekundenbruchteilen wurde aus der Passantin Käthe Ebner der Fall Käthe Ebner.
Wie das, was danach geschah, überhaupt geschehen konnte, darüber streiten sich nunmehr die Gutachter. Übereinstimmung gibt es bislang nur in einem: Eine von der Arbeitsgemeinschaft Kontorhaus angeheuerte polnische Kranfirma hatte den Auftrag bekommen, eine „Kranmatratze“ von der Friedrichstraße über das Dach des Rohbaus hinweg in die Mohrenstraße zu transportieren. Dieser aus sechs Doppel-T-Trägern bestehende und über zwei Querstreben verschweißte Lastenverteiler sollte hinter dem U-Bahn-Zugang in der Mohrenstraße als Unterbau für einen Kleinkran Verwendung finden. Zwei Einrichter befestigten die Last an „Kran 4“ in der Friedrichstraße. Noch bevor sie den Kranführer von der Mohrenstraße aus über Funk einweisen konnten, hatte der die Last schon gesenkt. Dabei löste sich einer der sechs Meter langen und 200 Kilo schweren Stahlträger.
Bis heute ist allerdings unklar, ob dieser Träger, wie von der Staatsanwaltschaft vermutet, in einem Bogen über die Absperrung auf die Straße fiel oder zunächst auf dem Dach liegenblieb und von einem anderen Kran in der Mohrenstraße weitertransportiert wurde und dabei herabfiel. Marion Mickley, eine Augenzeugin, hatte beobachtet, daß der Stahlträger vom Ausleger eines Krans in der Mohrenstraße senkrecht in die Tiefe gefallen war. Ein anderer Zeuge sah, wie der Ausleger von „Kran 3“ in der Mohrenstraße kurz nach dem Unglück in Richtung Baustelle schwenkte.
Steffen Lindenblatt arbeitet wie Manfred Kuntze im Büro der Victoria-Versicherung gegenüber dem Kontorhaus. Wie Kuntze hat er seine Beobachtungen in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten. „Die Polizei hat die Unfallstelle nicht abgeriegelt und auch keine Fotos gemacht“, notierte er. Dann erzählt er, wie ein britischer Tourist der Polizei angeboten hätte, seine Personalien als Zeuge zur Verfügung zu stellen. In England sei das so üblich. „Die Polizei jedoch meinte, daß das nicht nötig sei“, erinnert sich Lindenblatt.
Bereits die ersten Handlungen der Polizei nach deren Eintreffen kamen Steffen Lindenblatt zweifelhaft vor: „Das sah so unprofessionell aus. Sie haben den Stahlträger weggerückt und das Fahrrad beiseite gestellt.“ Die „Spurensicherung“ der Polizei kann Lindenblatt nur noch ironisch kommentieren: „Ich dachte: Prima, vielleicht noch ein bißchen Sand, dann ist nichts mehr zu sehen.“ Manfred Kuntze wies einen Polizisten darauf hin, daß das Fahrrad ein Beweisstück und erst zu dokumentieren sei, und schob es zurück. Lindenblatt fotografierte es. Später wurden Passanten von der Polizei aufgefordert, herumliegende Gegenstände von Käthe Ebner wieder in deren Tasche zu stecken. Noch zwei Tage nach dem Unfall fand die Schwester der Verunglückten Teile einer Perlenkette.
Zwar räumte die Polizei später Fehler beim „ersten Angriff“ ein. Für die Beweislage seien diese aber nicht von Bedeutung. Kuntze und Lindenblatt wurden bis heute von der Staatsanwaltschaft nicht als Zeugen gehört.
Der Tag nach dem tödlichen Unfall war der Tag der Experten. Eginhard Wonneberger, Referatsleiter für Baustellensicherheit beim Landesamt für Arbeitsschutz (Lafa), erklärte, Grund für die steigende Zahl von Unfällen seien die Hektik, Termine einzuhalten, was zu Bauzeiten bis in die Nacht führe, sowie Verständigungsschwierigkeiten unter den Arbeitern. Im Schwenkbereich eines Krans müsse auf jeden Fall jeglicher Aufenthalt von Passanten unterbunden werden, meinte Wonneberger. Im Klartext: Der Transport von Kranlasten über öffentlichem Straßenland ist nur erlaubt, wenn der entsprechende Straßenabschnitt von der Polizei für den Dauer des Transports abgesperrt wird. Einen Grund einzuschreiten, sah das Lafa allerdings nicht.
Als am Tag nach dem Unglück auf der Kontorhaus-Baustelle mit dem Abbau von „Kran 3“ in der Mohrenstraße begonnen wurde, traute Manfred Kuntze seinen Augen nicht. Er verständigte sofort die Polizei. Doch die Beamten blieben fern. Später erklärte die Staatsanwaltschaft, daß es sich bei dem abgebauten Kran nicht um den „Unfallkran“ gehandelt habe. Eine Behauptung, die für Rechtsanwalt Lothar Poll, der die Eltern von Käthe Ebner vertritt, noch nicht erwiesen ist. Poll stellt inzwischen in Zweifel, ob Polizei und Staatsanwaltschaft die notwendigen Schritte eingeleitet haben.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft beschränken sich bisher auf den Kranführer und die beiden Einrichter der Kranfirma. „Das kann's doch wohl nicht gewesen sein“, meint Käthe Ebners Lebensgefährte Matthias Richter, „daß die verurteilt werden und die Bauherren weitermachen wie bisher.“ Doch die Investoren, die Hamburger Neue-Heimat-Nachfolgerin Hanseatica und die Münchner Anlagegesellschaft Argenta, weisen jede Schuld von sich. Schon kurz nach dem Unfall ließ die Hanseatica erklären, man habe die Baudurchführung an einen Generalübernehmer übergeben. Auch der „Arbeitsgemeinschaft Kontorhaus“, ein Verbund der Baufirmen Heitkamp, Züblin und Holzmann, war der Tod von Käthe Ebner bislang einzig Anlaß zu einem Kondolenzschreiben. Zehn Tage nach dem Unglück wurde es an die Adresse der toten Malerin geschickt: „Sehr geehrte Familie Ebner“, heißt es, „betroffen über den Tod ihrer Tochter, möchten wir Ihnen unsere tief empfundene Anteilnahme zum Ausdruck bringen. Mögen Sie die Kraft und den Mut finden, diesen schweren Schicksalsschlag zu ertragen.“ Die Argenta und Hanseatica, für die auch der frühere FDP-Abgeordnete und Kunstfreund Walter Rasch tätig ist, haben bisher nichts von sich hören lassen.
Rechtsanwalt Poll hat es sich zum Ziel gesetzt, auch die Bauherren zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere Markus Feicht, dem Bauleiter der Arbeitsgemeinschaft Kontorhaus, müsse bekannt gewesen sein, daß die Last instabil gewesen sei. Poll beruft sich auf ein Gutachten des TÜV Berlin-Brandenburg, in dem es heiße, daß die Kranmatratze als Hebelast „konstruktiv ungeeignet“ und in dieser Form nicht zulässig sei. Die Heftnähte seien zudem vorgeschädigt gewesen, weil die Kranmatratze bereits als Unterlage der Baustellenzufahrt für LKW verwendet worden war. Außerdem, so der Anwalt, habe der Polier von Bauleiter Feicht die Anweisung erhalten, den Verteiler zu transportieren, ohne daß besondere Vorkehrungen gefordert worden seien. Entscheidend für die Verantwortung des Bauherren ist für Poll aber nach wie vor die Frage, ob die Last über der Straße transportiert wurde. Ein in der Mohrenstraße ansässiger Arzt, der gesehen hat, daß kurz vor dem Unglück bereits eine Last über die Mohrenstraße gehievt wurde, ist bisher ebenfalls als Zeuge noch nicht gehört worden.
Daß am Kontorhaus die Sicherheitsbestimmungen nicht allzu ernst genommen werden, ist kein Einzelfall: Bereits am Morgen des Unglückstages gegen 11 Uhr hatte ein weiterer Zeuge, Detlev Plachta, gesehen, wie auf der anderen Seite des Kontorhauses in der Kronenstraße ein Container am Kranseil hing, während darunter der Verkehr entlangbrauste. Sieben Stunden später starb Käthe Ebner. Doch für die Bauleitung war selbst dieses Unglück kein Grund, den illegalen Transport über öffentlich zugängliche Straßen zu unterbinden. Zuletzt war am 12. Dezember zu beobachten, wie eine Betonwanne in der Kronenstraße mehrfach über öffentliches Straßenland transportiert wurde. Auf das verbotene Treiben angesprochen, wollte Bauleiter Feicht zunächst beschwichtigen: „Das müssen wir abstellen“, fügte dann aber hinzu: „Da kommt doch ohnehin kein Fußgänger vorbei.“
Die Devise „Zeit ist Geld“ ist auf Berliner Baustellen zum Freibrief für grobe Fahrlässigkeit geworden. Der Tiefbauamtsleiter in Mitte, Peter Lexen, weiß, daß der Transport über ungesperrte Straßen bereits zum Alltag gehört. Für Lexen eine „absolut kriminelle Tat“. Doch die Behörde ist hilflos. „Wir haben für 1995 über tausend Baustellengenehmigungen erteilt“, sagt Lexen, „selbst dafür haben wir nur zwei Mitarbeiter.“ Zur Kontrolle bleibe da keine Zeit, das Bezirksamt sei auf die Hinweise von Bürgern angewiesen.
Die größtenteils leerstehende Bürolandschaft in der Friedrichstraße wurde für die Adventszeit mit Weihnachtsschmuck dekoriert. 700.000 Quadratmeter Bürofläche entstehen derzeit in der Friedrichstraße, drei Millionen sind es in Berlin. Käthe Ebner war die neunzehnte Baustellentote im Jahr 1995 und zugleich die erste Unbeteiligte, die dem Hauptstadt- Baugeschäft zum Opfer fiel. Daß die Sicherheit im Wettlauf um die Millionen als erstes auf der Strecke bleibt, weiß auch ein Architekt einer Baustelle in Mitte, der namentlich nicht genannt werden will. Er empfindet es geradezu als „Wunder“, daß nicht mehr Unfälle passieren. Die Ursache für den mangelnden Schutz von Bauarbeitern und Passanten sieht er in der Koordination der Bauabläufe: „Die Projektkoordinatoren, die eigentlich für den reibungslosen Ablauf des Baugeschehens sorgen müßten“, weiß er, „sind auf der anderen Seite oft finanziell am Einhalten des Zeitplans und an den eingesparten Baukosten beteiligt“.
Für Käthe Ebners Eltern waren die „Unzulänglichkeiten der Ermittlungen“ nach dem Tod ihrer Tochter ebenso verletzend wie die Reaktion des ehemaligen Bürgermeisters von Mitte, Gerhard Keil. Von ihm hatten sich Toni Ebner und Käthe Ebners Lebensgefährte Unterstützung bei der vorübergehenden Unterbringung der Bilder erhofft. Keil jedoch fragte nach den Rechtsgrundlagen, denen zufolge die Bezirksverwaltung dazu verpflichtet sein sollte.
Matthias Richter kann die „arrogante und überhebliche Art“ von Keil bis heute nicht verstehen: „Der hat überhaupt nicht kapiert, daß wir ihn nicht beschuldigen, sondern seine Hilfe wollten.“ Hilfe erfuhren die Eltern schließlich von den Künstlerkollegen und Freunden ihrer Tochter: Sie fanden einen Raum für die Bilder und planen für Ende Februar in der Galerie am Turm in Friedrichshain eine Ausstellung mit Käthe Ebners letzten Arbeiten.
Eine andere Ausstellung ist derzeit im Gebäude des Bausenators in der Behrenstraße zu sehen. Der Titel: „KranZeit“. Ausgestellt sind Aquarelle von Ulrich Baehr mit illustren Titeln wie „Die gelbe Stadt“, „Neue Zeit“ oder „Der Osten leuchtet“.
Zur Finanzierung von Ausstellung und Katalog wurde ein Spendenkonto eingerichtet: Berliner Sparkasse, Kto.-Nr.: 413 444 9869
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen