Ein Amerikaner in Gütersloh

■ Ein praktischer Zugang zum Internet, sonst wenig los im Hausnetz: Seit Dezember bietet der Bertelsmann-Konzern mit America Online zusammen seine Dienste an

Feldmaus bekommt eigentlich gerne Liebesbriefe. Doch die Romantik wird seit Wochen von der Technik verdrängt. Feldmaus hat jetzt ein moderneres Hobby: Flirten per Computertastatur. Im „Chatroom“ von AOL, dem neuen Bertelsmann-Onlinedienst, ist Feldmaus ein Star. Was sie eintippt, haben alle auf dem Schirm, die sich gerade im Online-Foyer befinden. Wenn sie sich verabschiedet, schmachtet die versammelte Computer-Gemeinde.

Feldmaus heißt eigentlich Andrea Wirtz und ist nach eigener Aussage „blond, nicht dumm“ und hat „blaue Augen“, was ihr im deutschen Chatroom vielfältige Avancen der männlichen AOL- Klientel verschafft. Die Düsseldorferin wird mit „Telegrammen“ eingedeckt, höchst persönlichen Mitteilungen, die nur sie lesen und beantworten kann. Kein Wunder, denn auch AOL-User sind mehrheitlich männlich. Und treiben sich im Moment vor allem in diesen Räumen herum, denn die übrigen deutschen Angebote sind noch recht dünn gesät. Wer ehrlich ist, gibt im anonymen Cyberspace neben seinem richtigen Namen auch Alter, Geschlecht und Hobbies an. Big brother is watching: Jedes AOL- Mitglied darf das Profil eines anderen Mitglieds abrufen — sofern eines vorhanden ist. Wer anonym bleiben will, wird im Chatroom hart gescholten. Das sei „unfair“.

Dabei ist der deutsche Treffpunkt namens „Foyer“ nur ein nettes Kaffeekränzchen, wo sowieso fast jeder jeden kennt. Weil sich die Zahl der deutschen AOL- Mitglieder noch in Grenzen hält und US-Chatter nur manchmal reinriechen. AOL-Geschäftsführer Jan Henric Buettner (31) will das schnellstens ändern. Bertelsmann hat sein Joint-venture mit dem US-Marktführer in Rekordzeit auf dem deutschen Markt plaziert, um vor allem private Kunden anzulocken. Seitdem auch die Telekom mit im Boot sitzt, sind die Claims abgesteckt: AOL als Unterhaltungsdienst für zu Hause, T-Online (Ex-Btx) fürs Business im Büro.

Beide bieten einen Internet-Zugang, und im Unterschied zu T-Online und dem Mitbewerber CompuServe ist das AOL-Gateway voll in die übliche Windows- Oberfläche integriert. Eine der größten Stärken von AOL ist die intelligent strukturierte Software mit eigenem Internet-Browser, der automatisch erscheint, wenn eine WWW-Adresse angeklickt oder eingegeben wird.

Auch der Wechsel zwischen den Hausangeboten von AOL und den Internet- Angeboten ist problemlos möglich. Und sogar gewollt: Im deutschen „Kiosk“-Bereich sind die Bertelsmänner mangels ausreichender eigener Angebote auf die Internet-Seiten von Spiegel, oder TV Today angewiesen. Auch der Stern soll, im Internet ausgesetzt, ein bißchen fürs Hausnetz werben. Weitere Clous: Im US-Bereich kann sich jedes AOL-Mitglied seine eigene Web-Page designen, die dazugehörige Software läßt sich herunterladen. Der „Download-Manager“ sorgt auch für das „Entpacken“ von komprimierten Dateien. Nur das Aktualisieren von eigenen AOL-Diensten dauert beim allerersten Zugriff seine Zeit: grafische Elemente werden peu à peu hinzugefügt. Um die Online- Zeiten möglichst gering zu halten, kann das Versenden und Empfangen von E-Mail automatisiert werden. Ein „Kurier“ sorgt für den schnellen Mail-Austausch und holt die elektronische Post zu bestimmten Uhrzeiten ab. Das Mail-Gateway zum Internet funktioniert gut, nur die Übertragungszeiten können durch den Umweg über die USA länger dauern als mit reinen Internet-Verbindungen.

Bertelsmann hat seine derzeit 51 deutschen Einwählknoten durchweg mit einer Übertragungsgeschwindigkeit von 28.000 Baud ausgestattet. Aber auch mit 14.000er Modems bauen sich Internet-Grafiken schneller auf als mit anderen Browsern. Für einige Internet-Anwendungen (zum Beispiel „Real Audio“) muß zusätzlich die Datei „Winsock. dll“ heruntergeladen und im Windows- Verzeichnis installiert werden.

Seit August durften hierzulande Tausende von „Feldtestern“ bereits kostenlos in den amerikanischen AOL-Angeboten schnuppern und die deutsche Zugangssoftware testen. Nachdem der Online-Dienst Anfang Dezember auch offiziell gestartet war, kam es zum großen Absturz. „Warum kommt es immer wieder zu Störungen im System? Ständig werde ich ohne Vorwarnung rausgeschmissen! Ist das die Art, wie Sie neuen Kunden gleich von Anfang an einen überzeugenden Service bieten wollen?“ fragte ein entnervter Tester Mitte Dezember an. „Uns ist leider eine wichtige Transatlantik-Verbindung zusammengebrochen“, gibt Jan Henric Buettner zu. „Das hat uns alle sehr geärgert.“

Bertelsmann hoffte, trotz der Pannen, die meisten Feldtester als reguläre Mitglieder werben zu können. Seit der Bekanntgabe des AOL-Preisgefüges (monatliche Grundgebühr 9,90 Mark inklusive nur zweier Freistunden, danach 6 Mark pro Online-Stunde) wurden jedoch zahlreiche Tester verschreckt: „Zwei Stunden im Monat und dann für jede weitere 6 Mark, da hab' ich doch in Kürze den Pfänder in der Wohnung“, machte sich einer von ihnen gleich im Netz Luft. Aufgeschreckt von der vorweihnachtlichen Kritiker- Lawine, haben die Bertelsmänner ihren Feldtestern noch schnell ein neues Paket unter den Baum gestellt: den speziellen Weihnachtstarif „Dank 24“. Damit sollen die Tester weiter bei der AOL-Stange gehalten werden. Alle Feldtester, die sich bis zum 31. Dezember „re- registrieren“, müssen in den folgenden 24 Wochen monatlich 24 Mark zahlen. Dafür gibt's 24 freie Online-Stunden, jede zusätzliche Stunde kostet 2,40 Mark. Auch mit dem regulären Preis von 9,90 Mark im Monat sei AOL preisgünstiger als T-Online, verteidigt Buettner seine Preispolitik. „CompuServe ist nur dann günstiger, wenn Sie ein 9.600er oder 14.400er Modem nutzen und nahe an einem der nur zehn Zugangsknoten wohnen.“ Wie viele neue Mitglieder AOL schon gewonnen hat, möchte Buettner erst nach Weihnachten sagen. Stefan Müller

stemuell@stud.Uni-frankfurt.de

pian095sm@aol.com

„Kreaturen, die nur im Cyberspace leben“, nennt die britische Künsterlin Cindy Dalton ihre Figuren, von denen auf dieser Seite einige zu sehen sind. Ein doppeltes Verwirrspiel: „Cleo“ (mit der Riesenstele), „Sphinx“ (mit Schleier), „Andro“ oder „Baby“ sind sogenannte Morphs, Verwandlungen des Originals durch die Manipulation seines digitalisierten Bildes. Dalton ironisiert zugleich die in diesem Genre üblichen Politwitze. Clinton wird bei ihr nicht Dole, das Original selbst ist eine graphische Reduktion, die nur um weitere Stereoptypen ergänzt wird. ( http:// www.demon.co.uk/Trash/Art/ )