Volk Jesu unter Plastikplanen

Brasiliens Landlose besetzen brachliegenden Großgrundbesitz. Ein „Agrarreformgesetz“ gibt ihnen Recht. Trotzdem werden sie vertrieben  ■ Aus São Paulo Astrid Prange

Dies ist das Volk Abrahams“, sagt Dona Adelaide stolz. Die 66jährige Großmutter wohnt in einem improvisierten Holzverschlag, notdürftig mit einer schwarzen Plastikplane abgedeckt, an der brasilianischen Bundesstraße BR-158 im Bundesstaat São Paulo. „Sie verfolgen uns, wie sie einst Jesus Christus verfolgt haben.“

Eigentlich bräuchte sich die alte Frau den Polizeiknüppeln nicht mehr auszusetzen. Mit 66 Jahren hat sie kein Anrecht mehr auf ein Stück Land vom Staat. Doch die Kürbissammlerin kämpft um die Zukunft ihrer Enkelin. Wenn sie durchhält, kann sie künftig auf ihrer eigenen Scholle leben.

An der BR-158 hoffen 1.200 Familien darauf, ins Grundbuch eingetragen zu werden. Seit acht Monaten machen sich in dem Zeltlager São Domingo am Straßenrand Landarbeiter, Stadtflüchtlinge und Arbeitslose gegenseitig Mut. „Die Besetzung von unproduktivem Land ist keine Sünde“, ist Enkelin Vanderleia da Silva überzeugt. Die 23jährige, bereits Mutter von drei Kindern, schaukelt gelassen ihr Baby in der Hängematte hin und her. „In der Kirche heißt es immer, die Erde gehört Gott. Also gehört sie allen“, zitiert sie den wichtigsten Grundsatz der brasilianischen Landlosenbewegung „Movimento dos Sem-Terra“ (MST), die „Bewegung derer ohne Land“.

Vanderleia da Silva hat sich auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Auf dem Küchentisch ihrer Hütte, „Barraca Nummer 4“, steht eine Babywanne für ihre fünf Monate alte Tochter Jessica. Dahinter ein Ehebett, das sie mit dem Säugling und ihrer Großmutter Adelaide teilt – von ihrem Mann hat sie sich noch während der Schwangerschaft getrennt. Ihr Bruder hat vor der Hütte eine Dusche in einem kleinen Holzverschlag montiert.

Im Gegensatz zu den zahlreichen anderen Zeltlagern in der Region von Pontal de Paranapanema verfügen die „Sem-Terra“, so die brasilianische Bezeichnung für Landlose, in São Domingo über fließendes Wasser. Der Chef des staatlichen Energieunternehmerns „Cesp“, das dort ein Wasserkraftwerk betreibt, pflegt mit den Landbesetzern gutnachbarschaftliche Beziehungen. „Die Leute sind ausgesprochen höflich, warum sollten wir ihnen das Wasser abdrehen?“ fragt Adelindo Soares de Carvalho. Die Holzbarracken von „Cesp“, wo einst die Bauarbeiter des Kraftwerkes unterkamen, dienen heute als Klassenzimmer für die Kinder der neuen Bewohner.

Und überhaupt scheint im Lager São Domingos eitel Sonnenschein zu herrschen. Der Betriebsrat von „Mercedes Benz do Brasil“ und der brasilianische Gewerkschaftsverband „Cut“ spendeten Nahrungsmittel. Kirchengemeinden aus ganz Brasilien versorgen die Landlosen mit Altkleidern und Schuhen. Der Bürgermeister der naheliegenden Stadt Teodoro Sampaio richtete in der Region eine Buslinie ein, die zweimal täglich die vier besetzten Farmen mit dem 6.000-Seelen-Ort verbinden. Mario Covas, Gouverneur des Bundesstaates São Paulo, versetzte gar zwei Lehrerinnen nach São Domingo, die dort 70 Schüler provisorisch unterrichten.

Dennoch gleicht das dumpfe Ausharren unter schwarzer Plastikplane einem Aufenthalt im Fegefeuer. Staub, Hitze, Knochenarbeit auf den umliegenden Feldern, die Angst vor den Räumungstrupps schwerbewaffneter Polizisten und Überdruß am eigenen Elend prägen den Alltag der Sem- Terra. „Ein Fünftel gibt wieder auf, das ist normal“, meint Dirceu Alves. Der Regionalleiter des „Movimento dos Sem-Terra“ (MST) im Bundesstaat São Paulo hat bereits Heim und Hof. Zusammen mit 600 Familien wurde er vor drei Jahren auf dem umliegenden Gut „Fazenda São Bento“ angesiedelt. Die Enteignung der als unproduktiv eingestuften Farm kostete die Landesregierung fünf Millionen Dollar.

„Wir werden ein bis zwei Jahre leiden, aber dann haben wir unser eigenes Stück Land“, glaubt Maria Aparecida de Oliveira. Die 38jährige Melkerin, die vorher mit ihrem Mann auf einer Farm arbeitete und wohnte, hatte das Dasein als Magd satt. Zusammen mit anderen Landarbeitern und MST- Aktivisten mietete sie einen Lastwagen und organisierte ihren Umzug auf die Straße. Standardausrüstung jeder Landbesetzerfamilie: Matratze, Holzlatten, Gasherd und meterweise schwarze Plastikplanen.

Kinderreiche Familien gelten als beste Verteidigung gegen gewaltsame Räumungsaktionen. „Je größer die Zahl, desto sicherer“, erklärt Neuri Rossetto aus der MST-Zentrale in São Paulo. „Wir empfehlen, daß insbesondere Frauen und Kinder teilnehmen.“ Mit mehr als 500 Familien auf einmal würden Polizisten nicht so einfach fertig.

Nicht immer geht diese Taktik auf. Der Zusammenstoß zwischen 335 Landbesetzen und 187 Militärpolizisten im brasilianischen Bundesstaat Rondonia im August wurde zum Massaker mit zwölf Toten. Im November vollstreckten übereifrige Polizisten mit Waffengewalt einen Räumungsbefehl auf der „Fazenda Saudade“ im brasilianischen Bundesstaat Paraná. Bilanz: 23 Verletzte. Die Beamten fühlen sich im Recht, schließlich handelten sie auf Befehl von Gouverneur Jaime Lerner. Vor der Presse verniedlichte der Gouverneur seinen Schießbefehl: Er habe sich „nur auf die Beine“ beschränkt.

Räumungsbefehle und Gerichtsvorladungen gehören für erfahrene Landbesetzer zur Routine. „Die Polizei rückt mit allem an: Mit Rettungswagen, Planierraupen und Hubschraubern“, beschreibt Neuza Degaspari die Räumungsaktionen. Auch ein Leichenwagen sei stets dabei, um psychologischen Druck auszuüben. Schon 30mal wurde die Landarbeiterin aus Paraná auf diese Art vertrieben. Mittlerweile wohnt sie seit zwei Jahren in der provisorischen Ansiedlung Santa Clara, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lager von São Domingo.

Für die „Verständigung“ zwischen Landbesetzern und Großgrundbesitzern sind in Brasilien die Justizbeamten zuständig. „Der Vorarbeiter, der auf der Fazenda wohnt, hat Angst. Und der Besitzer redet nicht mit uns,“ erklärt Aparecido Laureano, der sich ebenfalls provisorisch in Santa Clara niedergelassen hat. Acht Monate befanden sich die Besetzer mit dem Eigentümer der „Fazenda Santa Clara“ im Dauerkrieg. „Sobald die Polizei kam, brachen wir die Zelte ab und zogen uns auf die Straße zurück. Am nächsten Tag waren wir wieder da.“ Schließlich änderten die Sem-Terra ihre Taktik: Nur tagsüber bestellten sie die Äcker auf der Fazenda, abends kehrten sie ins Zeltlager am Straßenrand zurück. Nach zwei Jahren lenkte der Großgrundbesitzer ein und überließ ihnen ein Teil seines Grundstückes.

Brasiliens Präsident Fernando Henrique Cardoso wird nicht müde, die schleppende „Agrarreform“ als Priorität seiner Sozialpolitik zu bezeichnen. Als der 64jährige Soziologe am 1. Januar dieses Jahres sein Amt antrat, versprach er, 280.000 landlose Familien mit einem Stück Land zu versorgen. Bis jetzt kamen 30.000 Familien in den Genuß von enteignetem Grund und Boden. Die Umverteilung gilt als letzte Möglichkeit, den Sprengsatz aus Armut und Gewalt zu entschärfen. „Alle Anbauflächen befinden sich mittlerweile in privater Hand,“ stellt MST-Mitarbeiter Rossetto klar. In den großen Städten würden mehr Arbeitsplätze zerstört als geschaffen. Und als soziales Ventil funktioniere auch das Amazonasgebiet nicht mehr, in das jahrzehntelang die Massen von Land- und Besitzlosen abwanderten, um dort Regenwald zu roden und landwirtschaftlich nutzbar zu machen. Für MST-Aktivist Dirceu Alves sind die Landkonflikte in Wirklichkeit Ausdruck eines gnadenlosen Klassenkampfes. „Was Sie hier sehen, ist eine Schlacht zwischen Arm und Reich“, stellt er klar. Und der brasilianische Staat stehe auf der Seite des Großkapitals. Als Beweis verweist er auf die Prozeßlawine, die die Landbesetzungen in der Region ausgelöst haben: Dreizehn MST-Anführer müssen sich vor Gericht wegen „vorsätzlicher Bandenbildung“ und „illegalen Waffenbesitzes“ verantworten.

Zur Kriminalisierung der Landbesetzer dürfte es, ginge es in der brasilianischen Demokratie mit rechten Dingen zu, eigentlich nicht kommen. Denn seit Februar 1993 verfügt das Land über ein „Agrarreformgesetz“, das die Enteignung von „unproduktiven“ Ländereien vorsieht. Die Wirksamkeit dieses Gesetzes ist allerdings fraglich, solange die betroffenen Großgrundbesitzer auf dem Rechtsweg sowohl die Entschädigungssumme als auch die Einstufung ihrer Ländereien als „unproduktiv“ anfechten können. Denn bis das endgültige Urteil gefällt ist, und das kann in Brasilien leicht zehn Jahre dauern, gelten Landbesetzer als Kriminelle.

In Wirklichkeit wird die „Agrarreform“, die sich die brasilianische Regierung seit zehn Jahren selbst verordnet hat, die feudalen Eigentumsverhältnisse nicht antasten. Knapp ein Zehntel der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Brasilien, 32,5 Millionen Hektar, befinden sich in den Händen von gerade mal 264 Großgrundbesitzern. 250 Millionen Hektar, 64 Prozent der Nutzfläche, verteilen sich auf 550.000 Betriebe mit einer Größe zwischen 100 und 10.000 Hektar. Am unteren Ende der sozialen Leiter teilen sich 4,7 Millionen Kleinbauern 15 Prozent der Nutzfläche, nämlich 49 Millionen Hektar. „Nur in Paraguay“, so Rossetto, „ist die Bodenkonzentration stärker.“ Dabei müßte die brasilianische Regierung dem MST eigentlich dankbar sein. Die rund hundert Landbesetzungen mit 22.000 Familien, die die Bewegung allein in diesem Jahr im ganzen Land in Gang gebracht hat, tragen zumindest dazu bei, die massive Wanderbewegung in die großen Ballungszentren aufzuhalten, wo mittlerweile zwei Drittel der 150 Millionen Brasilianer leben.

Die meisten Anhänger der Landlosenbewegung stammen aus Basisgemeinden der katholischen Kirche. Im Gegensatz zum konservativen brasilianischen Kongreß, der die Landreform bremst, betreibt die katholische Kirche in Brasilien eine aktive Lobby.

MST-Koordinator Rossetto räumt ein, daß die „Agrarreform“ weder die Landflucht verhindern noch die feudalen Besitzstrukturen in Brasilien aufbrechen kann. „Die Regierung hat durch ihre Wirtschaftspolitik bereits Tausende von Familien in diesem Jahr vom Land vertrieben“, erklärt er. Exorbitante Zinsen von 30 Prozent im Jahr und mangelnde Kredite für die Finanzierung von Saatgut und Arbeitsgeräten seien unter anderem für die Völkerwanderung in die Städte verantwortlich. Der Kampf der Klassen ist mittlerweile höflich-bescheidenen Forderungen gewichen: „Wir wollen“, erklärt Rossetto bescheiden, „daß die Leute ein Stückchen Land haben, um sich zu ernähren, und daß sie ihre Kinder zur Schule schicken können.“

Auch die Landlosen selbst geben sich keinen Illusionen hin. „Jetzt kann ich wenigstens eine neue Plastikplane kaufen“, witzelt Arinoldo Gomes. Vier Jahre harrte der „Jünger Jesu“ mit den aufgerissenen Schuhen in einem Zeltlager der Sem-Terra in der Region von Pontal de Paranapanema aus. Jetzt sitzt er auf der ehemaligen Viehweide und schaut Angestellten der Agrarbehörde „Incra“ zu, die für ihn eine 23 Hektar große Scholle abstecken. „Wenn ich der Erde etwas abringe, reicht es sogar für eine Hütte“, meint er zufrieden. Die riesigen Löcher in seinen schlammsteifen Stiefeln stören ihn nicht. Wichtiger ist ihm ein Dach über dem Kopf.