■ Silvester
: Von Torsten Preuß - Zweite Folge

In der gestrigen taz ging's los mit dieser Geschichte – und zwar auf den Seiten 16 und 17. Sie handelt von einem, der trotz des Einreiseverbots in die DDR 1984 mit seinen Freunden in Dresden Silvester feiern wollte.

Unser Mann kommt von Prag, schleicht sich nachts über die grüne Grenze zwischen der CSSR und der DDR und kommt halb erfroren, noch immer voller Angst, aber auch stolz, in Dresden an. In sechs weiteren Folgen, bis zum 30. Dezember, erscheint Silvester von nun an taz-täglich.

Draußen vor dem Bahnhof stand die Luft wie in einem Eisfach. Die Gaslaternen warfen einen mattgelben Schein über die weißen Straßen. Schneeflocken setzten sich auf die Weihnachtsbäume, die links und rechts vom Eingang standen.

„Keine Gefahr“ funkte sein Gefühl an seinen Verstand. Der widersprach und lenkte den Blick nach rechts. Ein Lada der Volkspolizei stand verlassen am Straßenrand. Hinter den Vorhängen der kleinen „Mitropa“-Kneipe an der Ecke erkannte er die Umrisse zweier Dienstmützen.

Er wechselte die Straßenseite und wartete an der Haltestelle auf die Straßenbahn.

Sie kam nicht. Ein Taxi auch nicht. Eine Clique Jungen und Mädchen lästerte über „die Kommunisten“, die sich jedes Jahr aufs neue vom Winter überraschen lassen würden. „Wie wollen die erst den Krieg gewinnen“, fragte ein Mädchen und alle lachten.

Er studierte den Rest des Fahrplans, der an der weißgetünchten Betonwand des kleinen Wartehäuschens klebte. Die Straßenbahn der Linie 10 fuhr zum „Volkshaus“, dem Tanzschuppen der Stadt. Es gab Zeiten, da war er jeden Abend dort gewesen. Für 1.60 Mark Eintritt tanzten sie, bis um Punkt 22.45 Uhr die „letzte Runde“ angesagt wurde.

Popper und Punker, Modells und Milchgesichter, Hippies und FDJler – im „Volkshaus“ traf die ganze „sozialistische Jugend“ aufeinander. Meistens kümmerten sich alle einen Scheißdreck um die offiziellen Vorgaben zur Freizeitgestaltung. Die Musik sprang zwischen „AC/DC“, „Genesis“, Marianne Rosenberg und „City“, die Tanzfläche hatte immer schwer zu tragen. Manchmal gab es ein paar Schlägereien, meistens, wenn sie zuviel „Moulain Rouge“ getrunken hatten. Das war Rotwein, gemischt mit „Club-Cola“, einem Schnaps und einem Schuß Zitrone. Er kostete günstige 2.30 Mark und galt auf der Szene als „Babschmacher“ – noch vor Wodka-Cola.

Es war nicht so, daß er nach seiner Ausreise in Westberlin nicht auch tolle Nächte verbracht hatte, aber trotzdem. Soviel Spaß und Lust am Jung- und Anderssein, wie damals, als jedes Abweichen von der Norm sofort Reaktionen „staatlicher Stellen“ hervorrief, hatte er im Westen nicht mehr gehabt. Er spielte mit dem Gedanken, an einem der nächsten Abende auf einen „Moulain Rouge ins Volkshaus zu gehen und so zu tun, als wäre er nie weggewesen. Ein Blick zur Mitropakneipe auf der anderen Seite brachte ihn wieder zurück. Die Dienstmützen waren weg.

Die Volkspolizisten saßen jetzt in ihrem Lada und beobachteten ziemlich auffällig die Haltestelle, an der sich mittlerweile eine größere Gruppe Jugendlicher angesammelt hatte, die alle tanzen fahren wollten.

Es war Freitag abend – die Gefahr, von irgend jemandem wiedererkannt zu werden, wurde immer größer. Bis zum Treffpunkt waren es circa 45 Minuten zu Fuß. Er gab sich einen Ruck und lief los.

Die Straßenbahn überholte ihn nach zehn Minuten. Er blickte den gelb-roten „Tatra“-Waggons gedankenversunken hinterher. Vor 48 Stunden war es nur eine Idee gewesen, und jetzt lief er eine schwach beleuchtete Straße in Dresden-Laubegast entlang. – Er hatte blaue Füße, aufgeplatzte Lippen und ein Loch im Bauch, aber trotzdem fühlte er sich wie jemand, der gerade eine heilige Kuh geschlachtet hatte.

„Einreiseverbot“ war für die Genossen eine eminent wichtige Waffe im Kampf gegen alle Feinde der Republik. Für einmal Austricksen durch die Hintertür gab es bestimmt fünf Jahre. Ihm wurde noch kälter, als er daran dachte, daß er gerade kurz davor gestanden hatte.

Der Schaffner hatte ihn im Zug geweckt und nach seiner Fahrkarte gefragt. Er hatte keine gehabt. In Schmilka war der Schalter geschlossen gewesen, aber dem Schaffner hatte das als Erklärung nicht gereicht. Statt zu schlafen hätte er ihn lieber während der Fahrt suchen sollen, um sich bei ihm zu melden. Nun sei es zu spät, hatte er gesagt, und festgestellt: „Schwarzfahren ist strafbar.“ Dann hatte er seinen Ausweis verlangt.

Die Straßenbahn verschwand in einer Kurve am Ende der Straße, auf der er der einzige Fußgänger war.Fortsetzung folgt