Victorian Psycho

Hyde the Ripper rastet aus: Genaues Grauen in Michael Simons „Jekyll & Hyde“-Bearbeitung an der Berliner Volksbühne  ■ Von Katja Nicodemus

Strange appetites and pleasures plagten Dr. Jekyll von Jugend an. Hinzu, oh Hölle, kam eine gewisse Neigung zu ungestümer Heiterkeit – a certain impatient gaiety of disposition. Über die Art der so verderbten Vergnügungen bewahrt Jekylls Schöpfer Stevenson vielsagendes Schweigen.

Richtig Spaß will er jedenfalls haben, der ältliche Doktor, statt mit seinen Gentleman-Freunden Utterson und Lanyon bei gutem Rotwein bis ans Ende der Zeiten gepflegte Kaminkonversation zu betreiben. Als feinduftender Zigarrendunst wabert die edle Ödnis viktorianischer Salons zu Beginn von Michael Simons Jekyll & Hyde-Variation in die Nase des Zuschauers. In flauschigen, dunkelgrünen Ohrensesseln räkeln sich die Herren, kleine Rauchwolken ausstoßend. „Ich langweile mich so gerne“, seufzt Lanyon im behaglichen Havanna-Smog. Und während die Sound-Collage im Hintergrund bereits das Tier knurren läßt, plaudert man noch ganz wohlerzogen: von der Zivilisation als Täuschung der Natur, von der Subjektphilosophie, der endgültigen Trennung des Guten vom Bösen – those provinces of good and ill which divide and compound man's nature. Nach der zur perfekten Starre stilisierten Sesselexposition haben Moralphilosophie und Gesellschaftskritik nichts mehr zu suchen im Spektakel. Sobald der Jekyll/Hyde vom Rosa-Luxemburg- Platz mit Hilfe von Skalpellen, Kristallen und Tinkturen herausfindet, that man is not truely one but truely two, hat's mit dem Disputieren bald ein Ende. Denn was Jekyll/Hyde im Buch am Ende erkennt, ist hier Motto: The movement was thus wholly towards the worse and the monstrous. Als Jekyll, steifer Stenz im Zylinder, stakste der Doktor noch stocksteif durchs Panoptikum viktorianischer Familienfreuden.

Steht die Stevensonsche Vorlage noch gänzlich weiblos da, suchte sich Simon den verwandtschaftlichen Anhang aus diversen Filmbearbeitungen. Jekylls Verlobte Muriel, mechanische Miss zum Aufziehen wie Offenbachs Olympia, ihr Vater ein Ruhe-ist- des-Bürgers-erste-Pflicht, ihre Tanten, reglose Monster aus dem Mädchenpensionat. Madame Tussaud hätte ihre Freude gehabt an diesen grauen Vogelscheuchen in Krinolinen und Gehrock, verstaubten Exponaten einer Gesellschaft, genauso schwerfällig wie die unförmige Königin, nach der sie benannt ist. Wer sehnte sich da nicht nach dem bösen Tränklein, nach pleasure and the animal within me. Und wo sich Stevensons Schizophrener zumindest anfangs müht, die böse Fratze zu beherrschen, läßt Herbert Fritsch/Jekyll/Hyde ganz ungehemmt die Sau raus, schleift seine Opfer über Schrägen, rammt virtuos den Spazierstock in ehrbare Münder, quält und hurt und haut. Die Bühne: zwei metallene Rampen, zwei Wände, ein Schreibtisch, im Hintergrund krallt King-Kongs Klaue. Ansonsten weites Feld für die Klaviatur der Destruktivitäten. Für Victorian Psycho und Simon's Hyde and Horror Picture Show. Zwar konzentriert sich die Aufführung schnell auf die schändliche Seite des Doppeldoktors, doch ohne in einen ermüdenden Reigen pseudoprovozierender Splatterspielchen zu verfallen. Denn: das Grauen ist genau. Da säuselt Sophie Rois als Ivy auf der Rampe ein „Blue Moon“, daß sich außer ihrer Federboa auch jedes Nackenhaar im Publikum sträubt, um gleich darauf in Hydes sadistischen Seziererhänden zu landen. Halbnackt und hilflos liegt sie auf dem Tisch, schreit, fleht, bettelt, schmeichelt, während er, lusting to inflict pain, mit sachtem Sadismus mal würgt, mal streichelt, hin- und hergerissen zwischen Zärtlichkeit und Mordlust. Man liegt mit Ivy auf dem Tisch, auch in der zehnten Reihe. Wenn Jekyll zum erstenmal die teuflische Tinktur zusammenbraut, hantiert er minutenlang schweigend hinter Bücherstapeln. Man spitzt die Ohren, beobachtet, sieht kleine Gesten plötzlich messerscharf. Danach bedarf die Metamorphose keines großen Gedröhns. Ein paar Haare an den Händen, ein Fletschen, ein Zittern – Hydes Geburt.

Die durchgängige Soundcollage und Musik von Suicide Club verstärkt die strenge Komposition des Spektakels, illustriert, unterstreicht und treibt das Geschehen auf der Bühne voran. Resultat ist eine Geschlossenheit von Spiel-, Ton- und Lichteffekten wie im Kino. Ihre schwachen Momente hat Simons Aufführung dann, wenn er sein synästhetisches Formprinzip durch Klamaukeffekte oder überflüssige Einsprengsel von Alltagssprache durchbricht.

Evil finally destroyed by the balance of my soul. Nicht nur die Seele, alles, gesellschaftliches wie kosmisches Gleichgewicht, gerät durch böses Tun ins Wanken. Deshalb marschiert der Wald von Birnan zu Macbeth, hingegen Michael Simon in der Volksbühne die Wände wandern läßt. Gelegenheit für eine kämpferische Klettereinlage von Utterson und Hyde, irgendwo zwischen David Copperfield und „Menschen, Tiere, Sensationen“.

Den Auftritt des Abends allerdings hat Sophie Rois. Samt sexuell enthemmter viktorianischer Tante röhrt und kreischt sie einen weiteren Rock ins Mikro wie ein wilder Derwisch. Danach sind die Tanten nicht mehr Tanten, fallen die Zylinder, fliegen die Röcke. Es kollabiert die Szenerie, die Revue gerät außer Rand und Band, Hyde the Ripper rastet aus.

„Der Tod ist keine Unart und keine Laune, vielleicht ist er ein Hochstapler, der Tod“, sinnierte zu Beginn eine Figur, im Programmzettel als Ägyptische Eule vermerkt. Die Eule der Minerva fliegt nicht durch diese Inszenierung. Dafür läßt Simon die Puppen tanzen, bis es kracht. Ende gut, alle tot.