Spiel den Jackson Pollock!

Ihre Konzerte bestehen aus einem einzigen Stück. Sie erfinden sich bei jedem Auftritt neu. Sie waren Maoisten und weg vom Fenster. Nach 30 Jahren sind sie plötzlich wieder gefragt: AMM, die Avantgardisten aus dem Nichts  ■ Von Christoph Wagner

Mysteriös ist die Musik, so mysteriös wie der Name: AMM, eine Abkürzung – aber für was? „Advanced Modern Music“, meinten die einen, andere versuchten, Fernerliegendes aus dem Kürzel herauszulesen. Eine offizielle Version der Band gab es nie. Statt dessen wahre Legenden oder legendäre Wahrheiten: zum Beispiel, daß sie in den Anfangsjahren denselben Manager hatten wie Pink Floyd. Und daß der sie gelegentlich zu Doppelkonzerten verpflichtete.

Vor 30 Jahren war das, und was aus dem Manager wurde, weiß niemand. Während Pink Floyd sich allerdings längst von einer psychedelischen Underground-Band zum Stadion-Act entwickelt hat, ist AMM ihrem radikalen Ethos treu geblieben – und sind damit heute so erfolgreich wie nie zuvor. Vor allem Klangbastler aus den experimentellen Sparten der Rockmusik haben die Klangmeditationen des All-Star-Ensembles der britischen Free-Music-Szene als Inspirationsquelle entdeckt. Die Mitglieder der amerikanischen Art-Rocker Sonic Youth zählen zu den größten Fans. Thurston Moore, maßgebliches Mitglied der New Yorker Gruppe, hat AMM eingeladen, als Begleitband mit auf die nächste Tournee zu gehen. Unter einer Bedingung: Die Auftrittsdauer darf eine Stunde nicht überschreiten.

Das allerdings kann schwierig werden: Normalerweise sind die AMM-Konzerte um einiges länger und umfassen meistens nur ein einziges Stück: eine ausgedehnte Kollektivimprovisation. Das gemächliche Zeitmaß, die weiten Spannungsbögen und der lineare Fluß erinnern an indische Ragas, nur daß das Klangmaterial aus dem Soundlabor der Avantgarde stammt. Vorabsprachen gibt es nicht. AMM erfindet sich bei jedem Auftritt neu. Aus der ersten zufälligen Note wird alles entwickelt.

Es gibt weder einen deutlichen Anfang noch ein richtiges Ende. Die Musik scheint aus dem Nichts zu kommen und ins Nichts zu gehen. „Es geht darum, so zu spielen, als ob es so etwas wie Musik zuvor nicht gegeben hätte“, bringt es AMM-Schlagzeuger Eddie Prevost auf den Punkt.

Das Rauschen der Aluminiumbänder

Keith Rowe sitzt an einem Tisch, auf dem er seine Gitarre nebst dem Inhalt eines Werkzeugkoffers ausgebreitet hat. Mit Schraubenziehern, Springfedern und anderen Blechteilen erzeugt er einen Kosmos bizarrer Sounds. Wenn er einen Metallstab auf dem Griffbrett wippen läßt, erklingt ein wimmernder Ton, während das eigenartige Rauschen von Aluminiumbändern stammt, die über die Saiten gezogen werden.

Keith Rowe ist ein Pionier des experimentellen Gitarrenspiels, für dessen Erfindung fälschlicherweise immer andere gerühmt werden. „Von mir sagt man, daß ich Fred Frith kopiere“, erklärt er mit leicht resigniertem Unterton. „Was soll ich da sagen? Ich spiele schon einige Jahre länger als er, und meine Spielweise hat ihn stark beeinflußt. Aber er ist eben inzwischen viel bekannter als ich.“

Kleine Trommel, große Trommel, Hänge- und Standtrommeln, dazu ein paar Becken – Eddie Prevost spielt ein Schlagzeug, wie es jede Tanzkapelle verwendet – doch mit ganz anderen Intentionen. Der Perkussionist von AMM hat dem Stakkato-Instrument die melodische Dimension erschlossen und ein Vokabular erarbeitet, das zu Rowes langgezogenen Gitarrentönen paßt.

Jetzt reibt und drückt er auf die Felle oder kratzt und schleift über die Metallcymblas, bis ihr Jaulen und Quietschen zu einem surrenden Klangstrom anschwillt, auf dem die Pianotöne von John Tilbury federleicht dahinsegeln.

Der renommierte Interpret zeitgenössischer Klaviermusik nutzt das ganze Spektrum an Klängen, die seit Henry Cowell und John Cage dem modernen Pianisten zur Verfügung stehen. Einmal klingt sein Flügel wie das abgedämpfte Glockenspiel eines balinesischen Gamelanorchesters, ein andermal wählt er den puren Anschlag einfacher Harmonien.

Komplexe graphische Partituren

Als AMM vor drei Dekaden entstand, kamen die meisten Musiker aus dem renommierten Jazzorchester von Mike Westbrook. Allerdings hatte der Free-Jazz-Bazillus, den Ornette Coleman und Albert Ayler in die Welt gesetzt hatten, bereits England erreicht. Ein starkes Bedürfnis nach Freiheit, Spontaneität und persönlichem Ausdruck waren die Symptome. Keith Rowe sorgte in seiner alten Band für Verwirrung, weil er jetzt statt vom Notenblatt nach einem Bild von Jackson Pollock spielte.

Daß AMM nicht ins Fahrwasser des Free-Jazz-Mainstream geriet, sondern einen anderen Kurs einschlug, ist Cornelius Cardew zu verdanken. Cardew, ein klassisch geschulter Komponist Neuer Musik und ehemaliger Stockhausen- Assistent, war auf die Band gestoßen, als er für die Uraufführung seines Megawerks „Treatise“ nach Musikern suchte, die willens und in der Lage waren, sich auf die komplexen graphischen Partituren einzulassen.

Die Begegnung mündete in eine intensive Kooperation. Cardew wurde AMM-Mitglied, was einem Tabubruch gleichkam. Die Gralshüter der E-Musik-Avantgarde rümpften die Nase: Was will eigentlich der begabte Komponist „Ernster“ Musik mit den vier Jazzmusikern?

Cardew war zeitweise so stark von den Möglichkeiten der freien Improvisation fasziniert, daß er seine kompositorische Tätigkeit völlig einstellte. Das ultrademokratische Prinzip „Kein Dirigent, keine Solisten und kein untergeordnetes Orchester“ schien im „John-Cage-Jazz“ von AMM verwirklicht. Die Formation hielt jedoch ebenfalls Abstand zur Chaos- Theorie des Free-Jazz, die forderte, daß prinzipiell jeder in der Lage sein müßte, ohne Vorabsprachen mit jedem in jeder Situation zu spielen. AMM schwebte anderes vor. Dauerhafte Zusammenarbeit sollte die Intuition und das gegenseitige Verständnis intensivieren, um dadurch Kollektivimprovisationen zu wirklich homogenen Improvisationen eines Kollektivs werden zu lassen.

Keine Gnade für Stockhausen!

Anfang der siebziger Jahre geriet die Gruppe in Turbulenzen, als sich im Zuge der Studentenrebellion Cardew und Rowe zu hartgesottenen Maoisten politisierten, die das Konzept der Gruppe als „reaktionären bürgerlichen Individualismus“ in Frage stellten. Der Konflikt eskalierte und vergiftete die Atmosphäre. Das ging so weit, daß eine Tournee durch Holland 1973 von zwei verschiedenen AMM-Untergruppen absolviert wurde. Man reiste in getrennten Autos und traf sich nur abends in der jeweiligen Stadt zum Auftritt, wobei jedes Duo eine Hälfte des Konzerts bestritt.

Die Situation begann sich erst wieder zu entspannen, als Cardew und Rowe die Gruppe Richtung Politik verließen. Cardew schrieb eine scharfe Polemik gegen seinen ehemaligen Lehrer, worin er behauptete: „Stockhausen dient dem Imperialismus“, wie der Titel des Pamphlets lautete. Zwei Jahre später kehrte Keith Rowe desillusioniert zur Band zurück. Die Wirklichkeit hatte ihn gelehrt, daß auch

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mit linksradikalem Rock 'n' Roll die Arbeitermassen nicht zu erreichen waren.

Als in den sechziger Jahren die Subkultur zeitweise den Pop- Mainstream dominierte, reichte die Wertschätzung für AMM bis weit in die Rockszene hinein. Zusammen mit Cream trat das Free- Music-Ensemble im Londoner „Roundhouse“ auf, im Melody Maker erschienen Lobeshymnen, und das Major-Label Elektra offerierte einen Plattenvertrag. Allerdings ließ dort das Interesse bald nach, als sich der Wind drehte. Eine Odyssee durch die Korridore der Plattenfirmen begann, was zu nichts anderem führte als Frust. Mit dem Ergebnis, daß die Gruppe Ende der siebziger Jahre ihr eigenes Label, Matchless Records, aus der Taufe hob.

Klangnebel, nicht Rock 'n' Roll

Und nun plötzlich wieder Respekt von seiten der Jüngeren, wiedererwachtes Interesse, regelrechtes Hofieren – „ganz unerwartet, just out of the blue“, wie es Eddie Prevost ausdrückt. Robert Hampson von der Gruppe Main und Kevin Martin (Techno Animal) suchten den Kontakt. Der kanadische Gitarrist Jim O'Rourke lud AMM- Perkussionist Eddie Prevost zu Plattensessions ein. Eines Tages erhielt der sogar einen Anruf von Pete „Sonic Boom“ Kember, seit Spacemen 3 ein Star der britischen Pop-Elektronik-Szene. Kember wollte Prevost als Drummer für sein neues Bandprojekt E.A.R. gewinnen.

Ein paar Wochen später standen die beiden dann tatsächlich gemeinsam auf der Bühne des Saales der Birminghamer Universität und stimmten ein fast durchweg junges Publikum auf die härtere Gangart der amerikanischen Rockformation Pavement ein. Allerdings mit atmosphärischen Klangnebeln, nicht mit Rock 'n' Roll – dem hatte Eddie Prevost gleich mit einem deutlichen „No way!“ einen Riegel vorgeschoben.

Für AMM ist das neuerliche Comeback natürlich eine späte Genugtuung. Nach fast 30 Jahren Free-Jazz-Einsamkeit gelangte die Gruppe jetzt wieder auf die Produktion eines Major-Labels. Auf der Virgin-Compilation „Ambient 4/Isolationism“ sind sie als einzige Veteranen-Combo neben so aktuellen Trendsettern wie Aphex Twin, Seefeel und Disco Inferno vertreten.

Eddie Prevost beeindruckt das alles dann aber doch nicht so. Über die Unbeständigkeit des Erfolgs im Popgeschäft macht er sich keine Illusionen.

Platten:

– AMM: „30 Years of AMMmusic“. Matchless Records (2 Shetlock's Cottage, Matching Tye near Harlow, CM17 0QR, GB)

– AMM, Aphex Twin, Seefeel u.a.: „Ambient 4/Isolationism“, Virgin 7243 8 39810-2 (2 CDs)

Buch:

Edwin Prevost: „No Sound is Innocent. AMM and the Practice of Self-Invention“. Copula-Press, Harlow 1995, 191 Seiten