Vom Wunder des ewigen Anfangs

Aus gegebenem Anlaß eine neuerliche Inspektion der Spandauer Vorstadt  ■ Von Michael Bienert

Sanierung tut weh. Für die Bewohner der Hackeschen Höfe ist die Schmerzgrenze längst überschritten. Seit einem Jahr leben sie auf einer Baustelle. Die behutsame Erneuerung der acht denkmalgeschützten Höfe stellt sich ihnen als Kleinkrieg gegen Lärm, Dreck und unangenehme Überraschungen dar. Täglich müssen sie neue Wege zwischen Baggern, Gerüsten, Fallgruben und aufgestapelten Baumaterialien auskundschaften. Preßlufthämmer und Kreissägen löchern das Nervenkostüm.

Daß der Schrecken Anfang 1996 ein Ende haben soll, glaubt inzwischen niemand mehr. Zu oft wurden Absprachen von der Bauleitung nicht eingehalten. Am geduldigsten ertragen das Chaos die eingesessenen Kultureinrichtungen – das Varieté Chamäleon, der Sophienclub und das Hackesches- Hof-Theater – sowie die 60 Wohnungsmieter. Sie sind froh, daß sie überhaupt bleiben können. Ein 1993 zwischen dem Bezirksamt und den neuen Besitzern abgeschlossener Sanierungsvertrag garantiert die Nutzungsmischung von Wohnen, Kultur und Gewerbe sowie bezahlbare Mieten für zehn Jahre.

Ständiges Feudeln gehört zum Geschäft

Im Sommer zogen Handwerksbetriebe, Galerien und Boutiquen in die schnell hergerichteten Erdgeschosse der inneren Höfe. Ihre Besitzer sind besonders verärgert über den anhaltenden Baustreß. „Die Kunden rufen verzweifelt an, weil sie denken, wegen der Baustellen sei alles abgesperrt“, erzählt die Inhaberin einer Schmuckwerkstatt. Sie hat ihren eigenen Kundenstamm mitgebracht und ist daher optimistisch, die Durststrecke durchzustehen. Andere Läden fürchten um ihre Existenz.

Gemeinsam haben die Geschäftsleute jetzt einen Antrag auf verlängerte Öffnungszeiten gestellt – ein Ansinnen, das bei den Wohnmietern in den Obergeschossen nicht gerade Begeisterung auslöst. Aber nur nach Ende der Bauarbeiten, wenn die Abendveranstaltungen des Theaters und Varietés Besucher anziehen, läßt sich die Miete erwirtschaften. Die Kunstbuchhandlung artificium lebt schon jetzt davon, daß sie am Wochenende bis spät in die Nacht geöffnet ist. „Der Baudreck ist für uns das größte Problem“, sagt die Buchhändlerin, die wieder mal den Putzlappen durch den Laden zieht.

Mit Bauplanen verhüllt ist auch die breite Straßenfront am Hackeschen Markt. Sie soll eine moderne, den alten Proportionen angenäherte Fassade erhalten. Im Vorderhaus entstehen Gewerbeflächen zu marktüblichen Mietpreisen. Die moderaten Mieten für Kultur, Wohnen und Kleingewerbe in den hinteren Höfen werden dadurch mitfinanziert.

Rainer Blankenburg gehört zu den Erfindern des Sanierungskonzepts. Aus den Fenstern seines Büros blickt man auf die frisch restaurierte Hoffassade. Wie ein riesiger Theatervorhang aus bunt glasierten Ziegeln hängt sie vor dem großen Saal, in dem für die abendliche Varietévorstellung geprobt wird. Darüber entstehen Räume für ein Programmkino. „20 Prozent Fläche für Kultur wollten wir sichern, 18 Prozent sind es geworden“, sagt Blankenburg zufrieden. Allerdings sieht auch er die „Verbiederung“ des kulturellen und gewerblichen Angebots mit Unbehagen. Ein Anflug von Schickimicki hat die frühere Verfallsromantik verdrängt. Was aber wäre die Alternative gewesen? „Als die heutigen Besitzer hier auftauchten, hatten sie Pläne einer Münchner Marketingfirma für eine Einkaufspassage in der Tasche“, erzählt Blankenburg. Daß sie bald im Papierkorb verschwanden, ist das Verdienst der Gesellschaft Hackesche Höfe, eines „Vereins zur Förderung des urbanen Lebens“. Blankenburg, nach der Wende Kulturamtsleiter des Bezirks Mitte, hat den Verein 1991 mitbegründet, um die Höfe als Kulturstandort zu sichern. Daraus entwickelte sich ein ABM-Projekt, das bis 1993 ein denkmalgerechtes Sanierungskonzept erarbeitete. Die verwickelten Eigentumsverhältnisse erwiesen sich als Glücksfall, weil sie eine schnelle Aneignung der Immobilie durch den Heidelberger Bauspekulanten Roland Ernst und seine Partner blockierten. „Jeder, der hier reinkommt, braucht erst mal ein Dreivierteljahr, um den Geist des Ortes zu begreifen und seine egoistischen Interessen zurückzustellen“, sagt Blankenburg. Bis zur Klärung der Eigentumsverhältnisse im Herbst 1993 konnte der Verein die Öffentlichkeit mobilisieren und bei den Investoren Überzeugungsarbeit leisten. Als sie zusagten, ein der Tradition der Höfe entsprechendes Sanierungskonzept mitzutragen, unterstützte sie der Verein bei der Klärung der Eigentumsfrage.

Beide Seiten einigten sich mit dem Bezirk und der Denkmalpflege auf eine schnelle, schonende und sozialverträgliche Sanierung. Der Zeitgewinn machte das Projekt trotz der Auflagen für die Investoren attraktiv. „Der Faktor Zeit ist ein Zinsfaktor und zählt bei Investoren fast mehr als die Investitionssumme“, berichtet Blankenburg. „Die kooperative Planung mit Betroffenenarbeit und festgelegtes Nutzungskonzept war der schnellste Weg für sie, um zum Zuge zu kommen.“ Außerdem flossen öffentliche Fördermittel in das Projekt.

Für die Unternehmensgruppe von Roland Ernst bringt es kurzfristig vor allem einen Prestigegewinn. Ernst war in den letzten Jahren durch die Spekulation mit Rückübertragungsansprüchen in die Schlagzeilen geraten. Damit erzwang er seine Beteiligung an den Friedrichstadtpassagen und an dem ABB-Projekt am Potsdamer Platz – Projekte, deren wirtschaftlicher Erfolg inzwischen fragwürdig geworden ist.

„Mit den Hackeschen Höfen kann man kurzfristig kein Geld verdienen. Aber wir haben keine Probleme, hier zu vernünftigen Preisen zu vermieten“, sagt Roland Ernst. „Die Höfe sind langfristig eine Projektentwicklung, die mindestens so gut ist wie die einer ,normalen‘ Immobilie.“ Ernst zeigt sich inzwischen an der behutsamen Altstadtsanierung sehr interessiert: „Solche Dinge reizen mich, da haben wir mehr Herzblut drin.“ Dokumentiert ist der Lernprozeß des Unternehmers in einem von der Gesellschaft Hackesche Höfe herausgegebenen Buch: „Die Spandauer Vorstadt – Utopien und Realitäten zwischen Scheunenviertel und Friedrichstraße“. Es zieht die Zwischenbilanz der Entwicklung des Gebiets zwischen Volksbühne, Tacheles und Hackeschem Markt nach 1989 und hat in dem Regal mit den neueren Publikationen über die Spandauer Vorstadt einen Ehrenplatz verdient.

Noch ein Buch – aber eins für den Ehrenplatz

Denn hier wird der Großstadtmythos „Scheunenviertel“ nicht nur voyeuristisch ausgebeutet, sondern auch die Anwohner kommen zu Wort. Man erhält Einblick in das komplizierte Kräftespiel hinter den brüchigen Fassaden des Viertels. Rainer Blankenburg vergleicht den wildwüchsigen Kiez mit einem Spielfeld, in dem wechselnde Akteure eine Balance zwischen ihren divergierenden Interessen finden müssen. Die Hackeschen Höfe sind ein Beispiel dafür, wie das Gleichgewicht gewahrt werden kann, selbst wenn ein so kapitalkräftiger Mitspieler wie Roland Ernst mit ins Spiel kommt. Die Zukunft des Viertels hängt davon ab, ob ähnlich tragfähige Lösungen an anderer Stelle gefunden werden können. Zum Beispiel für das Tacheles, dessen Zukunft nur gesichert werden kann, wenn der Bund mitspielt. Oder für die vielen Grundstücke, die nach und nach ihren Eigentümer wechseln. 96,3 Prozent der Grundstücke im Sanierungsgebiet sind mit Rückübertragungsansprüchen belastet. Der Sanierungsbeauftragte Hartwig Dieser schätzt, daß nur fünf bis acht Prozent der Antragsteller ihre Immobilie behalten wollen, falls sie ihnen zugeschlagen wird. Immer mehr Grundstücke fallen in die Hände anonymer Immobiliengesellschaften.

Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für eine behutsame Entwicklung des Viertels. Denn überzeugende Lösungen konnten immer nur dann gefunden werden, wenn Besitzer, Mieter und Behörden bereit waren, im Gespräch aufeinander zuzugehen.

Ein gutes Beispiel für eine Verständigung zwischen einer Bürgerinitiative (Ost) und einer Alteigentümerin (West) ist das Wohnhaus in der Mulackstraße 37. „Was der Krieg verschonte, überlebt im Sozialismus nicht“, stand bis vor zwei Jahren an dem abrißreifen Gebäude. Obwohl im Herbst 1989 die Sprenglöcher schon gebohrt waren, hat es die DDR überdauert. Eine Bürgerinitiative kämpfte dafür, das Haus teils in Eigenarbeit, teils mit öffentlichen Mitteln zu sanieren. Die Alteigentümerin war außergewöhnlich kompromißbereit, denn sie hatte ihre Jugend in dem Haus verbracht und großes Interesse an seiner Rettung. Sie bot der Selbsthilfegruppe einen langfristigen Nutzungsvertrag mit günstigen Konditionen an.

Die Mulackstraße 37 ist eines der wenigen Häuser, in denen die Utopie der Nachwendezeit, das gesamte Viertel durch Selbsthilfe der Kiezbewohner zu sanieren, verwirklicht wurde. Die meisten anderen Versuche sind an Eigentumsfragen, oft auch an der Unbeweglichkeit der Behörden, gescheitert. Gerechterweise haben sich daran auch eine Reihe von Spekulanten die Zähne ausgebissen. Die Geschichte ihrer gescheiterten Versuche liest man besonders gern.

Seit 1993 ist die Spandauer Vorstadt Sanierungsgebiet – das bedeutet einen vorläufigen Schutz gegen die Abrißbirne und den vom künftigen Regierungsviertel ausgehenden Verdrängungsdruck. Doch ob die historische, soziale und kulturelle Substanz des Viertels dadurch wirkungsvoll geschützt werden kann, ist völlig offen. Im Fall der Hackeschen Höfe haben die Mobilisierung der Öffentlichkeit und politischer Druck den Investor zum Einlenken bewogen. Für Rainer Blankenburg ist das Buch über die Spandauer Vorstadt Baustein einer Strategie, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit den Sanierungsprozeß zu beeinflussen.

Die Rechnung könnte aufgehen. Denn auch wer nicht im Kiez wohnt, hat Grund, sich für seinen Bestand zu interessieren. Insbesondere dem Senat sollte langsam dämmern, daß der Erhalt der Kiezkultur zum Bereich der Hauptstadtplanung gehört: In der Spandauer Vorstadt – nicht am Potsdamer Platz, nicht im Spreebogen – wird heute geprobt, wie das Zusammenleben in der Hauptstadt zukünftig aussehen könnte.

Toleranz hat in diesem Viertel eine dreihundertjährige Tradition. Juden und Christen, Zuwanderer und Einheimische lebten hier bis zur Jahrhundertmitte in enger Nachbarschaft. In den letzten Jahren ist im Kiez eine neue Kultur des Zusammenlebens und der Konfliktregelung gewachsen. Die verspießerten und verkrusteten Milieus drum herum werden davon lernen müssen, wenn die Stadt wirklich die weltoffene Metropole werden soll, von der die Provinzpolitiker so gern schwärmen.

Jeden Abend pilgern Tausende in die Spandauer Vorstadt, um sich am Wunder der Urbanität zu berauschen. Es wird zwar touristisch ausgebeutet, aber so richtig scheint kaum jemand zu begreifen, was die Stadt daran hat. Die Synthese aus Tradition und Experiment, aus internationaler Ausstrahlung und unverwechselbarer Identität, die lebendige Mischung von Wohnen, Arbeiten und Kultur – kurz, alles, was uns andernorts von klobigen Spekulationsobjekten versprochen wird, ist in der Spandauer Vorstadt wildwüchsig da.

Noch besteht Hoffnung im Viertel, daß der anarchische Prozeß nicht gänzlich abgewürgt wird. Friedrich Loock, Galerist der Wohnmaschine in der Auguststraße, sagt es so: „Noch habe ich das Gefühl, daß es jetzt erst losgeht. Wenn ich aufwache, denke ich immer noch, heute beginnt die Galerie, und alles, was gestern war, ist nur das Vorspiel zum Ganzen.“

„Die Spandauer Vorstadt. Utopien und Realitäten zwischen Scheunenviertel und Friedrichstraße“, Argon Verlag 1995, 146 S., 90 Abb., 48 DM