Welkende Landschaften

Die Odermündung erhielt 1993 das Prädikat „Landschaft des Jahres“. Doch „grüne“ Anliegen wie nachhaltige Entwicklung und sanfter Tourismus in einer Landschaft durchzusetzen, die partout nicht blühen will, ist ziemlich hart  ■ Von Henk Raijer

Pommerland im Nebel. Naßkalter, modrig riechender Herbst. Nichts rührt sich, kein Laut – bis ein Bussard plötzlich kreischend die Flügel spreizt und unter kühner Mißachtung des Schlagbaums nach drüben segelt. Wie ein Mahnmal steht ein verrosteter Strohwender auf der Wiese neben der Chaussee. Die Buchen, die dem Eindringling Spalier stehen, sind kahl, feuchtes Laub hat das ungenutzte Pflaster glitschig gemacht. Vorne, am Eisentor, ist die alte B 110 zu Ende, ist Deutschland zu Ende – seit 50 Jahren.

Am Hochwasserschutzdamm, der in dieser Ecke Usedoms die Grenze zu Polen markiert, endet auch der Bahndamm; Birken und Gestrüpp arbeiten sich an seinen Flanken empor. Zweieinhalb Stunden nur brauchte der Berliner einst mit der „Bäderbahn“ bis Swinemünde. Der Gleiskörper liegt heute irgendwo in Rußland – Swinoujscie ist nur von Ahlbeck aus erreichbar.

Die Odermündung: ein halbes Jahrhundert Brache. Haff, Wald, dichte Schilfgürtel, Niedermoorflächen und Heide prägen die auch heute noch weitgehend unberührte Landschaft, in der eine Vielzahl seltener, zum Teil vom Aussterben bedrohter Tier- und Pflanzenarten lebt. Zu DDR-Zeiten war das Gebiet, zu dem die Inseln Usedom und Wolin, das Oderhaff und die Haffküste mit der Ueckermünder Heide gehören, aus militärischen Gründen tabu. Größere Natureingriffe, etwa durch Industrie, blieben dem Landstrich so erspart, der Tourismus war diesseits der Grenze auf die Seebäder Ahlbeck, Heringsdorf, Bansin und Zinnowitz begrenzt.

Damit das so bleibt, proklamierte schon 1993 die Naturfreunde Internationale (NFI) das Mündungsgebiet beidseitig der Grenze zur „Landschaft des Jahres“. Insgesamt 4.000 Quadratkilometer „einzigartigen Naturpotentials von exemplarischer ökologischer Bedeutung“ versah die in Wien ansässige Organisation mit dem Prädikat „besonders schützenswert“.

Dabei ging es der NFI, einem Zusammenschluß von 18 nationalen Verbänden mit europaweit 600.000 Mitgliedern, nicht etwa darum, ein Flora und Fauna vorbehaltenes Reservat zu schaffen. „Wir wollen in dieser strukturschwachen Region die Interessen der 2,5 Millionen Menschen und die Belange einer in Europa einzigartigen Naturoase unter einen Hut bringen“, erklärt Herbert Brückner (58), ehemaliger Gesundheits- und Umweltsenator der Stadt Bremen und seit 1989 NFI-Umweltreferent. „Ziel des Projektes ,Landschaft des Jahres‘ ist es, eine neue Leitlinie für den Tourismus zu erarbeiten.“

Ein erster Schritt zur praktischen Umsetzung des ehrgeizigen Vorhabens war 1994 die Gründung der „Stiftung Odermündung – Regionalverband für dauerhafte Entwicklung e. V.“ mit Sitz in Anklam. Aufgabe dieses Vereins ist es, die vorhandenen Ideen und Projekte für die Region zu einem Konzept zusammenzuführen, Initiativen vor Ort zu bündeln, Aktivitäten zu koordinieren und Fördergelder aufzutreiben – und die Öffentlichkeit mit einem der wichtigsten Ziele der Organisation bekannt zu machen: ökologische Regionalentwicklung in der Odermündung durch einen umwelt- und sozialverträglichen Tourismus.

Keine leichte Aufgabe in einer Landschaft, die bislang partout nicht blühen will. Die Einheit hat dem landwirtschaftlich geprägten Ostvorpommern die Basis entzogen, Bauern und Fischer darben oder haben längst aufgegeben – geblieben ist der Rohstoff Natur. Viele im Grenzgebiet drängt es daher nach schneller touristischer Vermarktung. Aber abseits der Usedomer „Kaiserbäder“, am Bodden und im Hinterland, herrscht gespenstische Ruhe, so auch in dem kleinen Ort Lassan am Peene-Strom.

Der Nebel hat sich aufgelöst, der Bodden und der schilfbewährte Küstenstreifen der Insel Usedom glitzern im Licht der tiefstehenden Herbstsonne. Auch Lassans Hafen erscheint in neuem Glanz. Fünf ältere Männer schlendern auf die neue Brücke zu, ihre Körper, in Wintermäntel gehüllt, werfen lange Schatten. Die Skippermütze schräg über die Stirn gezogen, eine Pfeife im Mundwinkel, kommentiert einer von ihnen die nagelneue Marina, die den Tourismus in Lassan beflügeln soll. „Wasserwanderrast“ nennt sich das hier, sagt er und deutet auf die restaurierte Brücke mit ihren fünf, sechs neuen Armen. „Für 50 Boote. Dabei gibt es kaum noch Gewerbe und nur eine Gaststätte in Lassan.“

Doch Lassan braucht Zukunft. Gerhard Mersch ist einer, der sie mitgestaltet. Der Düsseldorfer, der knapp nach der Wende die alte Tischlerei in der Langen Straße erwarb, betreibt mit seiner Lebensgefährtin eine Pension und leitet den Fremdenverkehrsverein. Mersch meint, die Einnahmen aus dem Tourismus, auch die der Marina, könnten das Handwerk im Ort wiederbeleben. „Der Fremdenverkehr kann ein Baustein sein: Wo verdient wird, wird investiert, etwa in die Modernisierung der Bausubstanz.“

Das ist auch bitter nötig. Lassan, in den Jahren 1900 bis 1920 berühmt wegen seines blühenden Holzhandwerks, sieht heruntergekommen aus; darüber können auch die zum Teil hübschen Giebel und reich verzierten Haustüren nicht hinwegtäuschen. Vom Gütesiegel „Landschaft des Jahres“ erhofft sich Mersch nicht nur die Erhaltung des urigen Charakters des 1.700-Seelen-Ortes. Umweltverträglicher Tourismus soll auch Geld in die Kasse bringen und die hohe Arbeitslosigkeit (bis zu 50 Prozent) zurückdrängen.

Mit einem neuem Projekt will man das örtliche Handwerk und den Jugendtourismus fördern. In Zusammenarbeit mit der „Stiftung Odermündung“ und dank einer Finanzspritze (200.000 Mark) aus Brüssel baut Lassan gleich neben dem Campingplatz alte Bauwagen aus: für Radwanderer, die naturverbunden reisen wollen und keinen Wert auf Luxus legen. „Wer nach Lassan kommt“, so Mersch, „ist bescheiden. Er sucht Ruhe, will wandern, segeln, radfahren oder mit dem Paddelboot auf große Fahrt gehen. Und wer doch mal Abwechslung braucht – nach Ahlbeck ist's nicht weit.“

Naturschutz, sanften Tourismus und die Notwendigkeit ökologischen Wirtschaftens zu predigen in einer Region, die fast mehr Menschen ohne als mit Arbeit zählt, ist heikel. Das weiß auch Renate Hübner, die seit gut anderthalb Jahren die Projekte der „Stiftung Odermündung“ in Anklam koordiniert. Zu groß sei die Ratlosigkeit, aber auch das Mißtrauen der Leute auf dem pommerschen Land, erklärt die Biologin.

Aber es gibt kleine Erfolge. So konnte ein breites Umweltbündnis in Torgelow eine Müllverbrennungsanlage verhindern. Auch mußte ein Großinvestor sein für 2.500 Urlauber geplantes Ferienobjekt in Altwarp erheblich zurückfahren. „Großen Zuspruch erfährt unser ,internationaler‘ Radrundweg, insgesamt 233 Kilometer von Anklam über Usedom, Wolin und Szczecin nach Ueckermünde“, erzählt Renate Hübner stolz.

In einer Gegend, wo die großen Arbeitgeber – das Greifswalder AKW, die Gießerei von Ueckermünde, die Anklamer Zuckerfabrik und die Peenewerft in Wolgast sowie zahllose LPGs – eingegangen oder bedeutungslos geworden sind, ist Tourismus der einzige Zweig mit Zukunft. Das meint auch Gerd Wolter, Geschäftsführer der „Gemeinnützigen Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft Usedom West“ in Trassenheide. „Aber wir brauchen ihn nicht in großem Stil, dafür haben wir die Seebäder.“

Wolters Firma erstellt Konzeptionen für ABM-Projekte, unter anderem in Abstimmung mit dem Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) und den Naturfreunden. Bislang wurden in der „Landschaft des Jahres“ in Absprache mit Kommunen und Forstämtern Reiterwege, Radfahrwege und Naturlehrpfade angelegt. Vorzeigeprojekt der Gesellschaft ist jedoch der Kunsthandwerkshof Mölschow.

Auf dem ehemaligen Gutshof eignen sich 108 meist berufsfremde ABM-Kräfte ganz neue Fertigkeiten an; die Produkte ihrer Hände Arbeit werden ausgestellt und an Touristen verkauft – in den eigenen Räumen, aber auch auf Märkten. Mit den Rohstoffen, die die Region hergibt, werden eine Seidenmalerei, eine Filzerei, eine Knüpferei, eine Korbflechterei, eine Keramik-, Metall- und Drechslerwerkstatt betrieben. Biologischer Landbau und eine Geräteausstellung komplettieren die Palette. Ziel des Projektes ist die „Ausgründung“. „Mölschow soll langfristig den zweiten Arbeitsmarkt verlassen und sich selbst finanzieren“, erklärt Gerd Wolter. „20 bis 25 Festarbeitsplätze könnten wir in Mölschow schaffen, die anderen brauchen eine neue Existenz. Wir verstehen uns als Jobschmiede für unsere insgesamt 263 ABM-Leute“, so der 57jährige Schiffsbauingenieur, der selbst 38 Jahre auf der Peenewerft in Wolgast gearbeitet hat. „Dazu bilden wir in Mölschow Köche und Kellner aus: für eine Zukunft im Tourismus.“

Wo 80 Prozent der Jugendlichen mangels Ausbildungsplätzen in die alten Bundesländer abwandern, finden „grüne“ Themen wie sanfter Tourismus und nachhaltige Entwicklung kaum Gehör. „Die jungen Leute hier haben Existenzängste, für umweltpolitisches Engagement fehlt auf Usedom jede Basis“, meint Gunther Schulze, Pfarrer in Zirchow und nach eigenem Bekunden „89er“. Der umtriebige Mittdreißiger, der vor zwei Jahren von der Insel Rügen nach Zirchow kam, organisiert Bildungsarbeit und macht mit Schülern seiner Gemeinde Ausflüge – auch ins benachbarte Polen. „Grüne kennt man allenfalls aus dem Fernsehen“, sagt Schulze, „die Jugend hier ist völlig apolitisch.“ Dabei sollte gerade sie die Weichen für einen Aufschwung ohne zerstörerischen Massentourismus stellen.

Die Probleme, die dieser in der Saison verursacht, kann Pfarrer Schulze wie alle Insulaner Tag für Tag hautnah erleben: In den Sommermonaten wälzt sich eine schier endlose Blechlawine über Usedoms Straßen, der „Polenmarkt“ von Swinoujscie ist eine ganzjährige Attraktion. Das radikale „Verkehrskonzept Usedom 2000“, das die Insel völlig autofrei machen möchte, steht und fällt mit der Wiederbelebung der alten Bahnverbindung Berlin – Swinemünde. Aber die geschätzten fünfhundert Millionen Mark für die „Bäderbahn“, die wie bis Kriegsende über die Karniner Brücke auf die Insel führen soll, schrecken Bund, Land und Kommunen gleichermaßen ab.

Und die grenzüberschreitenden Projekte mit Polen, von denen im Konzept der „Landschaft des Jahres“ so viel die Rede war? Was ist mit den Träumen der Naturfreunde von einem deutsch-polnischen Nationalpark, einem Biosphärenreservat gar? Bis auf die Teilnahme an vielen Seminaren, einigen medienwirksamen Aktionen und einem symbolischen Brückenschlag von Wydrzany nach Kamminke hält sich die polnische Seite bedeckt. Warschau ist weit weg, und Geld für „Luxusanliegen“ machen die Behörden in Szczecin nicht gerne locker. Und Kontakte? Pfarrer Schulze: „Es gibt wenig menschliche Beziehungen. Und Kontakte nur auf dem Markt.“

Wie zögerlich der kleine Grenzverkehr, der Kontakt zum Nachbarn in der „Landschaft des Jahres“ vorankommt, zeigt eine Episode auf der Südseite des Haffs. Aus dem Nebel, der sich gegen Abend über den Neuwarper See gelegt hat, taucht eine Fähre auf. Aber von Bord gehen im Hafen von Altwarp nicht etwa Besucher aus dem benachbarten Nowe Warpno. An Land gehen mit Plastiktüten bewaffnete Einkaufstouristen, die von einer „Butterfahrt“ nach Trzebiez und Swinoujscie zurückkehren. Für das einstige Neuwarp in Pommern, das bis auf den Kirchturm hinter dichtem Schilf versteckt liegt, gibt's nach wie vor keine Landeerlaubnis.

„Das liegt am Polen“, weiß einer der alten Fischer, die in der naßkalten Dämmerung Holzstämme für ihre Fischreusen schälen. „Der hat noch kein Zollhäuschen.“ Für die drei Männer, die ihr Leben lang im Stettiner Haff gefischt haben, ist Deutschland in Altwarp ohnehin nicht zu Ende. „Neuwarp, das Wasser ringsherum – ist doch eigentlich unsers. Oder sehen Sie da drüben irgendwo die Oder?“