Eine ganz normale Familie

Die Wärme des Partikularen, der unwahrscheinliche Universalismus – ein Versuch über die zwei konkurrierenden Moralen der Heiligen Familie  ■ Von Sibylle Tönnies

Keine ganz ideale Familie – die Heilige Familie: immerhin ist Joseph nicht der Erzeuger des Neugeborenen. Das nimmt dem frommen Bild aber nichts von seiner Wirkung – im Gegenteil. Weil Joseph sich dem Schutz von Mutter und Kind widmet, ohne damit seiner Fortpflanzung zu dienen, verkörpert er gegenüber Maria ein anderes – und in gewisser Weise höheres Prinzip: Während sie nur die Rolle spielt, die ihr die Natur auferlegt hat, während sie ihr Kind pflegt, nimmt Joseph seine väterliche Haltung aufgrund einer ethikgeleiteten, freien Willensentscheidung ein. Joseph ist in gesteigerter Weise „Vater“ insofern, als in seinem Fall alle selbstsüchtigen Motive, die dem Mann die Fortpflanzung attraktiv machen, wegfallen. Nicht aus innerem Zwang und auch nicht aus Unterwerfung unter die Sitte nimmt er das Kind in seine Obhut, sondern aufgrund eines äußeren ethischen Gebots.

Auf diese Weise verkörpern Maria und Joseph zwei große Prinzipien, die man so gern harmonisch vereint sieht, weil sie eigentlich miteinander rivalisieren: die Hingabe an das Eigene, Partikulare einerseits, die das Natürliche ist, und die Anerkennung universal gültiger, ethischer Maximen andererseits, die Ausdruck des Geistigen ist. In dieser Polarität bewegt sich jede Kultur und jeder einzelne, manchmal bewußt und manchmal unbewußt.

Zur Zeit ist die Spannung der rivalisierenden Kräfte deutlich spürbar. Der Glaube an universal gültige ethische Ideen hat in der Phase, die man „Postmoderne“ nennt, gelitten. Die kosmopolitischen Energien schienen erschöpft; an ihre Stelle trat das Partikulare in seiner ewig jungen Kraft und Farbigkeit. Das Konkrete schob sich vor das Abstrakte, das, was in einem Kontext steht, verdrängte das Losgelöste. Man war der allgemeinen Menschenliebe überdrüssig und suchte wieder Anschluß an die vitalen Energien der Freund-Feind-Verhältnisse.

Die Blässe, die Gesichtslosigkeit des Universalismus, seine Ferne vom Realen und Konkreten, der Mangel an einem Gegenüber, von dem man sich in identitätsbildender Weise abgrenzen kann, ließ die Vorzüge des Eigenen, des Umgrenzten, des natürlichen Zusammenhangs, der anderes ausschließt, hervortreten. Der Universalismus ist nicht natürlich, im Gegenteil. Er bedeutet die Abwendung von den natürlichen Bezügen: vom eigenen Kind, von der eigenen Familie, vom eigenen Stamm, vom eigenen Stand, von der eigenen Nation, und die Hinwendung zum Menschen an sich. Dessen wurde man müde.

Man wiederholte mit dieser Wendung nach innen, zum Einzelnen, Partikularen, die Wendung, die der Zeitgeist um 1800 genommen hat, als man von den universalen Ideen der Aufklärung gelangweilt war und den Zauber des Konkreten, Individuellen, Von- selbst-Entstandenen entdeckte; als sich die großen ethischen Ideen – Gleichheit und Freiheit – im Umschlagen der Französischen Revolution diskreditiert hatten und man sich von der abstrakten Vernunft abkehrte. Die Parteinahme für das Eigene entfaltete ihre Reize; Bettina rief Rumohr zu: „Du könntest Sätze tun über Abgründe, von einem Fels zum anderen, aber faul bist du und furchtbar krank an Neutralität.“ In der Wendung gegen Napoleon konnte man sich von dieser Neutralität heilen. – Die Entdeckung des Partikularen war der Kern der Romantik, und man kann die postmoderne Müdigkeit gegenüber dem Allgemeinen als Neoromantik auffassen.

Welche Position nimmt das Christentum in dieser Frage ein? Seine universalistischen Züge kommen in der weihnachtlichen Losung „Frieden auf Erden“ zum Ausdruck. Das christliche Denken war von Anfang an darauf angelegt, die stammes- und familienbezogenen Grenzen zu überschreiten und den abstrakten, universalen Menschen ins Blickfeld zu rücken: Die Gotteskindschaft kommt jedem zu, gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Standes, gleich welchen Geschlechts – alle besitzen in gleicher Weise eine unsterbliche Seele. Das Christentum erfaßte in einer gemeinschaftlich strukturierten Welt das abstrakte Individuum und beförderte damit die Auflösung der gewachsenen Bindungen und Gefolgschaften.

Ein amerikanischer Wissenschaftler meint jetzt festgestellt zu haben, daß Jesus unter hellenistischem Einfluß stand, nämlich dem einer kynischen Schule unweit von Kapernaum. Wir sollen uns vorstellen, daß hinter Jesus Diogenes steht, der Mann aus der Tonne, der in einer völlig bedürfnislosen Lebensweise weniger der Askese dienen als die Idee des abstrakten, von Statusbindungen losgelösten Menschen erkennbar machen wollte. Ohne daß man bisher einen historisch-kausalen Zusammenhang zwischen Diogenes und Jesus sah, hat man in diesem Universalismus schon früher die geistige Übereinstimmung beider gesehen. Die Botschaft des Diogenes ist in die Stoa eingemündet, die die abstrakte Gleichheit der Menschen erfassen und Sklaven und Frauen in ihre Ethik einbeziehen konnte; sie floß im späten Römischen Reich mit dem Christentum zusammen.

Besonders für die familienbezogenen Germanen lag in dem christlichen Universalismus ein Hindernis, den neuen Glauben anzunehmen. Der erste Germanenkönig, der getauft werden sollte, erkundigte sich noch unmittelbar bevor er sich ins Wasser tauchen ließ, ob er im christlichen Himmelreich seine Vorfahren anträfe. Als man ihm das verneinen mußte, verzichtete er auf den weiteren Vollzug des Aktes. Chlodwig ließ sich dann als erster germanischer König taufen und erregte damit das Mißtrauen seiner Verwandten, denn sie wußten wohl, daß Jesus Christus auf Verwandtschaft nichts gab und das familiengebundene Heil durch eine davon unabhängige Beziehung zu Gott ersetzt hatte. Dieses Mißtrauen erwies sich als berechtigt, denn der frischgetaufte Chlodwig ließ seine Verwandten alle umbringen.

Aber das Christentum hat auch eine andere Seite – wie es denn selbst in Partikularitäten zerfallen ist. Gegenüber dem abstrahierenden und universalisierenden Protestantismus hat der Katholizismus immer denen eine Zuflucht geboten, die das Konkret-Sinnliche, das Ritual, das Erlebnis suchten, und so war es kein Wunder, daß viele Romantiker, des blassen Deismus der Aufklärung überdrüssig, zum römischen Glauben konvertierten. Auch diese Seite ist im Christentum angelegt: Seine große Botschaft ist ja die, daß an die Stelle des Gesetzes die Liebe zu treten hat, und diese Seite kommt allen Tendenzen entgegen, die konkrete Zuwendung an die Stelle von abstrakt-ethischen Normen setzen wollen. Vor die Alternative zwischen Universalismus und Partikularismus gestellt, findet man in der christlichen Tradition keine eindeutige Antwort.

Mit dieser Ambivalenz in der Frage Universalismus/Partikularismus steht das Christentum nicht allein. Sie durchzieht alle komplexen Denkgebäude, zum Beispiel auch den versunkenen Marxismus. Einerseits war er universalistisch: Vor ihm fanden nationale Grenzen, Standes- und Geschlechtsunterschiede keine Anerkennung; seine Dogmen sollten losgelöst von kulturellen Kontexten Gültigkeit haben. Andererseits aber zeichnete er sich durch eine antiuniversalistische Grundhaltung aus: Die ewigen Werte und Maximen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), an die das liberal-bürgerliche Denken glaubte, waren ihm Schall und Rauch und nur der pseudogenerelle Ausdruck partikular-bürgerlicher Interessen. Auch die Haltung der Gegenwartskultur ist doppelgesichtig, denn die postmoderne Hingabe an das Eigene ist inhaltlich durch universalistische Werte ausgefüllt: In bekenntnishafter Weise identifiziert man sich mit der westlichen Kultur, die durch Universalismus und Kosmopolitismus gekennzeichnet ist.

Tatsächlich ist Einseitigkeit der Fragestellung nicht angemessen. Statt die Ambivalenz unreflektiert als Inkonsistenz mitzuführen, sollte man bewußt ein Doppelsehen pflegen und eine ausgeglichene Besetzung beider Hemisphären anstreben. Diese das Gegensätzliche nicht ausschließende Haltung fällt dem Verstand schwer und wird gefördert durch meditative Betrachtung. Dazu sei heute das Bild der Heiligen Familie empfohlen.

Der alte Zauber, der von diesem Bild ausgeht, hat seinen Grund in der verschiedenen Weise, auf die Maria und Joseph dem Kind zugewandt sind. Natur und Geist ergeben eine Polarität, die, wenn beide Pole so gut besetzt sind wie in diesem Fall, das Ganze und Heile repräsentiert. Marias Zuwendung zu dem Kind folgt einer Naturgesetzlichkeit; sie handelt so, weil sie nicht anders kann, und auf ihr liegt der ganze Glanz der Tatsache, daß innerhalb der Natur das sie sonst bannende Gesetz des Egoismus aufgehoben ist in der Sorge für das eigene Kind. Demgegenüber steht Josephs Leistung, der sich in diesem Naturzusammenhang befindet, keineswegs zurück.

Das Väterliche hat im Vergleich zum Mütterlichen auch dann einen erhöhten geistigen Anteil, wenn es sich um die leibliche Vaterschaft handelt. Das Väterliche ist in der Evolution erst eine junge Entwicklung: Die Zuwendung zum Kind ist nicht Ausdruck von Natur, sondern deren Überwindung und Überhöhung. Der evolutionäre Sprung vom Mütterlichen zum Väterlichen ist (im Sinne Kants) der Sprung aus dem Empirischen ins Intelligible, aus der Notwendigkeit in die Freiheit.

Welches ist das bessere Prinzip? Das vitale Gebot der Natur oder das ethische des Geistes? Die weibliche Haltung, die sich im Kontext bewegt, oder die männliche, die einer außerhalb stehenden Norm folgt? Im Anblick des Heiligen Paares wird man zu der Bifokalität aufgefordert, zu dem elliptischen Sehen, das der Frage angemessen ist.