■ Silvester
: Von Torsten Preuß Vierte Folge

Über die grüne Grenze schlich sich unser Mann von der CSSR in die DDR. Sein Ziel heißt Dresden. Dort kommt es beinahe zur Katastrophe: Im Intershop will die Verkäuferin seine Einreisepapiere sehen. Die taz-Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot 1984 in Dresden Silvester feiert, erscheint bis zum 30. 12. 95 taz-täglich. (Bisherige Folgen: 20. bis 22. 12. 95)

Er wußte, daß es Probleme geben könnte, aber er wollte unbedingt Dresden wiedersehen. Jemand borgte sich das Auto von der Mutter, und gegen Mittag fuhren sie mit einem „Wartburg Kombi“ in die Stadt. Er verglich das, was er sah, mit seinen Erinnerungen und fühlte sich in der Stadt seltsam sicher.

Hinter der „Straße der Befreiung“ bogen sie rechts ab und fuhren über die Elbe. Er sah die fertiggestellte Semperoper, deren geputzte Fassade im Schneegrau der Stadt aus der Reihe tanzte. „Sie hatten es also doch noch geschafft“, dachte er etwas wehmütig nach. Wahrscheinlich würde jetzt alle Welt verrückt auf einen Abend in der Semperoper sein, und wie immer in dieser Gegend wären Karten absolute Mangelware. Wer jemanden kannte, konnte jetzt ein gutes Geschäft nebenbei machen. Und er kannte viele, bis heute.

Er saß auf der Rückbank etwas unbequem. Seine Freunde hatten ihm geraten, sich beim Fahren zu ducken. Halb im Liegen sah er den Schriftzug des Café „Szeged“ am Fenster vorbeiziehen. Er sammelte ein paar Bilder aus seiner Erinnerung.

Das „Szeged“ war ein Treffpunkt derer, die mitten im Chaos der Planwirtschaft eine gut funktionierende Marktwirtschaft aufgebaut hatten. Die Nachfrage war groß, das Angebot klein. Gut für jeden, der etwas zu verkaufen hatte.

Manchmal hatte er mit Quarzuhren gehandelt, die er von Gaststudenten aus Libyen bezog, manchmal mit „Levi's“-Jeans, die vietnamesische Gastarbeiterinnen in Heimarbeit in einem Wohnheim am Rande einer Plattenbausiedlung nähten. Zum Schluß lebte er vom Schmuckverkauf. Sie bastelten Ohrringe aus Zahnarztdraht und Plastikperlen, verkauften die Teile in der Fußgängerzone und verdienten an manchen Tagen um die 600 Mark der DDR, mehr als ein Facharbeiter im Monat.

Meistens hatte er Wache geschoben. Er war mit der Zeit so etwas wie der „Chefaufpasser“ von Dresden geworden. Er hatte ein gutes Auge für Polizisten und solche, die es werden wollten. Dafür nahm er 10 Prozent vom Umsatz. Mit dem Geld ging er ins „Szeged“. Es hieß in der Stadt: „Dort bekommst du alles – vom Ohrring bis zum Polski-Fiat.“

Das stimmte nur halb, denn eigentlich bekam man noch viel mehr.

Am „Intershop“ gegenüber der Staatsbank, im Zentrum der Stadt, hielten sie an.

Der 31. Dezember 1984 fiel auf einen Sonnabend, es war kurz vor 13 Uhr, sie hatten Glück, daß „der Shop“, wie sie diese Läden immer nannten, noch offen hatte. Er zahlte bar. Das aber durften nur Bürger aus dem kapitalistischen Ausland. Die Verkäuferin schaute mißtrauisch auf seine Klamotten. Er drehte sich um. Seine Freundin blickte ihn an, als sie beide die Verkäuferin fragen hörten: „Sind Sie aus der BRD?“

Langsam drehte er sich zurück.

„Im Prinzip ja“, sagte er und konnte am Gesichtsausdruck der Verkäuferin ablesen, daß sie seinen sächsischen Akzent aufmerksam registriert hatte. „Können Sie sich ausweisen?“ Ihre Stimme war freundlich.

Er lächelte.

Für diesen einen Augenblick hatte er den richtigen Ausweis. Er gab ihn in ihre Hand und sah zu, wie sie ihn aufschlug.

„Und die Einreisepapiere?“

Ihre Stimme war immer noch freundlich, aber für ihn und seine Freundin klang sie in diesem Augenblick wie das Geräusch, das ein Stück Kreide auf einer Tafel machen konnte.

Sie bekamen eine Gänsehaut – und dann lächelte er der Frau zwischen den bunten Waren aus dem Westen augenzwinkernd ins Gesicht.

„Die wollen wir doch nicht verlieren“, sagte er so gelassen wie möglich, „die liegen besser zu Hause, ich will ja wieder raus.“

Es sollte locker klingen, sie nickte mit dem Kopf.

„Zumal sie ja noch nicht so lange raus sind.“

Sie blickte seine Freundin an, er blickte auf den Ausweis in ihren Händen.

Vielleicht war es ihr ja auch egal.

Freundlich gab sie ihm das Wechselgeld und seinen Ausweis in die Hand. Fortsetzung folgt