■ SILVESTER
: Von Torsten Preuß - Fünfte Folge

In der taz vom 20.12.95 ging's los mit dieser Geschichte von einem, der trotz Einreiseverbot 1984 in Dresden mit seinen Freunden Silvester feiern wollte. Er ist nun da. Die Party steigt. Zehn Tage bleibt er in der Stadt. Aber dann muß er wieder raus ... Silvester erscheint bis zum 30.12.95 taz-täglich. (Erste bis vierte Folge vom 20. bis zum 23.12.95)

Sie fuhren durch die Stadt zurück ins „Hexenhaus“. Im „Rundkino“ auf der Pragerstraße lief ein Film mit Louis de Funès. In drei Stunden sollte die Party beginnen, er hatte knapp 100 Mark weniger in der Tasche, dafür ein paar Flaschen „Southern Comfort“, ein Sixpack Coca Cola, eine Stange Gitanes ohne Filter und ein Kilo Süßigkeiten.

Den meisten war das mit der „Sondereinreisegenehmigung“ ziemlich Wurst. Es konnte sein – oder auch nicht.

Die Party lief, und alle waren froh, daß er dabei war.

Er saß auf einem rot-braunen Stoffsofa, das sie von einem Leben auf dem Sperrmüll erlöst hatten, und trank selbstangesetzten Wein aus Brot, ein Gesöff, das es nur hier geben konnte. Sie quatschten über Bücher und Platten, die er schicken sollte. Dann mußte er ihr Gras probieren.

Er fand, daß es nach alter Matratze roch und im Hals kratzte. „Hand-made in GDR“, sagten sie und lachten. Irgendwann waren sie darauf gekommen, daß man das Zeug aus Vogelfutter ziehen konnte. Seitdem bauten sie kräftig an. Draußen im Garten, unten an der Elbe oder beim Nachbarn. Dem hatten sie etwas von einer „seltenen Pflanze“ erzählt und ihn überredet, die Samen für sie zu gießen. Jetzt feixten sie sich halbtot, daß der Hobbygärtner hauptberuflich Volkspolizist war. Aus dem Mono-Lautsprecher des Plattenspielers dröhnten „Ton, Steine, Scherben“, Nina Hagen und „Ideal“. Der Hit des Abends kam von „Trio“. Die Platte lief die halbe Nacht. Er sah durch die tanzenden Körper auf die weiße Wand neben dem heißen Kachelofen. „Wir lachen, weil wir weinen“ – ein Spruch aus Nordirland. Jemand hatte ihn dort hingesprüht, weil er fand, daß es ihnen ähnlich ging.

Er stand auf. Das Gras war doch okay. Er ging in die Küche.

Auf dem Tisch in der Mitte stand eine große Schüssel voller selbstgemachtem Fett aus Schweineschmalz.

Er setzte sich zwischen die anderen, schmierte sich ein Brot und hörte zu.

Sie lachten über Gott und die Welt und schmiedeten Pläne für ein Theaterstück, eine Lesung oder eine Kampagne gegen Kriegsspielzeug.

Er kannte das. Kreativ waren sie hier immer. Er mußte lachen, als er daran dachte, daß sie Dresden im Westen als „Tal der Ahnungslosen“ bezeichneten, bloß weil hier am Abend kein westdeutscher Nachrichtensprecher die Welt erklären konnte. Die Decke der Küche erzitterte. Im Zimmer darüber fingen ein paar Jungs und Mädchen an, die Instrumente aus dem Probenraum warmzuspielen.

Er biß in sein Schmalzbrot und amüsierte sich über die Anekdoten, die sie sich von ihren Jobs als Hausmeister, Briefträger, Friedhofsgärtner oder Essensausträger bei der „Volkssolidarität“ erzählten. Wie immer kam dann irgendwann die Frage: „Gehen oder bleiben?“ Er erzählte von dem, was er „drüben“ alles erlebt hatte. Das machte es auch nicht leichter. Dann ging die Tür mit einem Knall auf und eine Stimme rief: „Raustreten zum Abschießen!“ Es war kurz vor 0 Uhr.

Er ging mit in den Garten und zündete Raketen, für die die anderen die ganze letzte Nacht vor der „Drogerie“ angestanden hatten. Pro Person hatte es zwei Stück gegeben. Das Feuerwerk war schnell vorbei. Er ging zurück ins Haus und blickte auf den „Ruhla“-Wecker, der auf einem Holzbrett stand, das als Regal an der Wand hing. Der große Zeiger hatte den kleinen Zeiger kurz hinter der Zwölf überholt. Das neue Jahr war gerade vier Minuten alt, als er sich für das, was kommen würde, selber viel Glück wünschte.

Viel Zeit blieb nicht.

Sein Visum für die CSSR lief am 9. Januar 1985 ab. Er mußte Dresden also spätestens am 8. Januar wieder verlassen.

Er fand, daß es rauswärts noch schwieriger werden würde. „Wie in jedem guten Gefängnis“, dachte er und spürte ein mittleres Beben im Bauch. Mit Papieren hätte er von Dresden bis Berlin gerade mal zwei Stunden gebraucht, aber so konnten es Jahre werden.

Fortsetzung folgt